Mitternachtslöwe (German Edition)
nicht vermiesen können, so sehr trieb der Hunger sein Unwesen in ihr.
Während des Essens erzählte ihr Gastgeber Olof von der Geschichte des Dorfes. »Die Sirenen haben uns hier auf Gotska Sandön schon immer das Leben schwer gemacht. Seit je her kommen sie des Nachts, um die Männer zu verführen. Viele verloren so ihr Leben, weshalb jene die das Glück hatten bislang verschont zu bleiben es eher vorziehen die Insel zu verlassen. Das Haus in das man euch einquartiert hat, gehörte bis vor kurzem noch Diecken. Ein guter Freund von mir. Er war der letzte den sich die Sirenen geholt haben. Unser Dorf ist das einzige an der Südküste der Insel, das noch übergeblieben ist. Im Nordwesten gibt es noch ein paar Leute. Die werden Augen machen wenn sie hören was passiert ist. Wir sind euch wirklich sehr dankbar, dass die Sirenen nun keine Plage mehr sind.«
Nach dem Essen kümmerten sich Kapitän Smög und Matte um ihre Weiterreise. Man stellte ihnen ein kleines Segelboot bereit. Eine gute Brise zog auf, sodass sie sich vornahmen gleich am nächsten Tag in See zu stechen und nach Gotland überzusetzen. Von dem dortigen Hafen würden sie eine sichere Überfahrt nach Lübeck bekommen, so versprach man ihnen.
Am nächsten Morgen packte Sophia ihre Sachen schnell zusammen und so blieb ihr noch etwas Zeit sich umzusehen. Am Rande des Dorfes entdeckte sie einen großen Runenstein, wie sie in fast ganz Schweden zu finden waren und die ihr Vater schon seit so langer Zeit studierte. Sie schaute ihn sich genauer an. Vertieft in die gemeisselten Schriften bemerkte sie nicht, wie Abaris neben sie trat.
»Ein Runenstein?«, fragte er.
»Ja. Er erzählt von den Goten, wie sie lossegelten, um neue Gebiete zu erkunden. Nichts über einen Löwen oder einen Adler«, lächelte Sophia.
»Ihr habt mir noch nicht erzählt, was letzte Nacht passiert ist. Byrger scheint bestens informiert zu sein, aber er sagt nichts dazu.«
Schweigend schaute Sophia eine Weile auf den behauenen Fels mit seinen Schriften.
»Nicht wegen Euren Visionen, sondern wegen dem was auf der Lichtung passiert ist, haben Euch Eure Eltern verstoßen, richtig?«
Bedrückt lies Sophia ihren Blick zu Boden sinken.
»Verzeiht, das war sehr... das war nicht sehr rücksichtsvoll. Ich bitte Euch um Verzeihung. Egal was passiert ist, ich bin Euch jedenfalls sehr dankbar. Ohne Eure Hilfe würden Tidesson und ich wahrscheinlich immer noch dort im Wald sitzen und nach der Pfeife dieser Sirenen tanzen.«
»Sophia«, sagte sie, immer noch den Blick gesenkt, »Nenn mich Sophia, wie du es letzte Nacht getan hast.«
Abaris nickte und lächelte. »Also, Sophia, sag, welche Rune ist das hier?« Abaris zeigte auf eine Einkerbung auf dem Stein.
Sophia fing erst zu kichern, dann laut zu lachen an. »Das ist keine Rune, Abaris, sondern nur eine Verzierung.«
Trotz seiner dunklen Haut war zu sehen, dass Abaris etwas rot anlief.
Sophia machte es wieder gut und zeigte ihrem neuen Schüler eine Rune. »Das ist Byrghal, die unterste Rune des Ascendus und somit der Beginn des Aufstiegs zum Göttlichen. Byrghal symbolisiert den materiellen Menschen, der von der irdischen Welt ablassen muss, um so eins mit dem Göttlichen werden zu können.«
»Also muss man sich von all seinen irdischen Besitztümern trennen? Von Allem was einem lieb ist?«
»Trennen nicht unbedingt. Man muss erkennen, dass nicht der Körper sondern der Geist das Höchste im Menschen ist, um die nächste Stufe des Aufstiegs zu erreichen.«
»Gibt es jemanden, der je diesen göttlichen Aufstieg geschafft hat?«, fragte Abaris.
»Ja«, sagte Sophia, »mein Vater.«
»Dein Vater hat mit eurem Gott gesprochen?«, fragte Abaris mit großen Augen.
»Nicht mit „unserem“ Gott.«, sagte Sophia und begann leicht zu schmunzeln. »Weißt du Abaris, es geht dabei nicht um eine bestimmte Religion. Mein Vater ist der Ansicht, dass der Gott der Christen, der nordische Thor, ja sogar Apollo schlussendlich ein und das selbe spirituelle Wesen sind. Genauso wie Jesus und Odin. Jesus ist der Sohn Gottes und Odin der des Thor. Die Sichtweise ist nur eine andere.«
Abaris schaute sie eine Weile nur an. Sein Gesicht wirkte nachdenklich, grübelnd, wehmütig.
»Was ist?«, fragte Sophia besorgt.
»Ich war lange Zeit ein Priester Apollos.«
Plötzlich wurde Sophia ganz flau im Magen. »Es tut mir leid, ich hoffe ich habe dich damit nicht gekränkt. Ich...«
»Nein«, unterbrach Abaris sie, »schon gut. Ich habe meinem Glauben schon
Weitere Kostenlose Bücher