Mitternachtsmorde
offenkundig keine Ahnung, was »normal« war. So wie es aussah, war der zeitliche Abstand zu groß, und zu viele Informationen waren verfälscht oder verloren gegangen, als dass sich mit einer Ausbildung alles abdecken ließ. Ihr fehlte einfach das nötige Feingefühl, und sie verstand nicht alle Anspielungen. In ihrem Job konnten solche Irrtümer tödlich sein. Aber am meisten schmerzte sie, dass er etwas an ihr auszusetzen hatte. Sie hatte irgendetwas getan, das ihn abstieß, und sie hatte keine Ahnung, was das war. Der Kuss hatte ihm gefallen; an seiner physischen Reaktion war nichts zu deuten gewesen. Was hatte sie also in den fünfzehn Minuten seither getan, um sein Missfallen zu erregen?
Die Angststarre löste sich und wich einem brennenden Schamgefühl. Sie hatte immer versucht, so unnahbar zu sein, wie man es von ihr erwartete, sich anzugleichen und sich nahtlos einzufügen; nachdem ihr legaler Status bestenfalls einer Duldung entsprach, hatte sie alles getan, um nur nicht aufzufallen. Einige andere ihrer Art hatten rebelliert, aber sie hatte sich ihr ganzes Leben lang bemüht, den Mächtigen zu gefallen. Die Rebellen unter ihnen waren zwar nicht vernichtet, aber weggesperrt worden, und man ging allgemein davon aus, dass sie ausgelöscht würden, wenn erst alle legalen Fragen geklärt waren und sich die öffentliche Meinung gegen sie wenden sollte.
Und nachdem erst die Bösen unter ihnen vernichtet worden waren, würde es bestimmt nicht lange dauern, bis die öffentliche Meinung forderte, dass auch die Übrigen ausgelöscht werden sollten, oder?
Sie hätte ihn gern gefragt, was sie falsch gemacht hatte, aber sie hatte sich ihr ganzes Leben bemüht, sich anzupassen, und nicht einmal ihre engsten Freundinnen über ihre Lage aufgeklärt; ihr Hang zur Verschwiegenheit hatte sich über die Jahre hinweg so verstärkt und gefestigt, dass sie sich außerstande sah, Knox auf dieses Thema anzusprechen. Er meinte ohnehin, dass sie ein Roboter sein könnte; da war es besser, seinen Verdacht nicht noch zu bestärken.
Schweigend und steif saß sie da, bis sie das Gerichtsgebäude erreichten. Wieder hielt Knox vor dem abgeschirmten Eingang, durch den besonders gefährdete Personen ungesehen ins Gebäude gebracht werden konnten. »Gib mir deine Autoschlüssel«, sagte er, und sie überließ sie ihm ohne ein weiteres Wort.
»Es macht dir doch keine Schwierigkeiten, diesen Wagen zu fahren, oder?«, fragte er, woraufhin sie die Instrumente betrachtete.
»Ich glaube nicht«, antwortete sie nach kurzer Überlegung. »Alle wichtigen Bedienungselemente scheinen sich an den Standardpositionen zu befinden.«
»Du wartest fünf Minuten. Bis dahin bin ich schon in deinem Mietwagen losgefahren. Dann fährst du durch die hintere Einfahrt, durch die wir hereingekommen sind, wieder auf die Straße und biegst links ab. Drei Blocks weiter gibt es an der rechten Straßenecke einen kleinen Lebensmittelladen. Dort warte ich auf dich.«
Offensichtlich würde er eine andere Route nehmen und dabei kontrollieren, ob jemand ihrem Mietwagen folgte, auch wenn der Verfolger, falls der Wagen tatsächlich observiert wurde, sehen würde, dass ein Mann und nicht eine Frau darin fuhr. Falls dem so war, würde derjenige davon ausgehen, dass Knox den Wagen zu ihr fuhr, und dem Wagen trotzdem nachfahren. Allem Anschein nach meinte Knox, dass fünf Minuten ausreichen würden, um alle Verfolger abzuschütteln.
Er stieg aus, und sie rutschte auf den Fahrersitz, um den Platz hinter dem Steuer einzunehmen. Als Erstes schob sie den Sitz vor, damit sie mit den Füßen an die Pedale kam.
»Falls ich aus irgendeinem Grund nicht dort warten sollte«, wies er sie an, »brauchst du nicht in Panik zu geraten. Du wartest einfach ab. Früher oder später werde ich auftauchen. Und noch etwas: Wenn wir bei meinem Vater sind, bleibst du im Auto sitzen. Es ist dunkel, er wird dich also nicht sehen können; er wird davon ausgehen, dass du zum Sheriff’s Department gehörst.«
Dann war er weg und eilte mit langen Schritten ins Gerichtsgebäude. Er würde das Gebäude direkt beim Parkplatz verlassen und aufrecht und ganz entspannt herumlaufen, so als hätte er nichts zu verbergen.
Nikita wendete den Wagen, sodass sie mit Blick zum Ausgang saß, und heftete den Blick auf die Digitaluhr im Armaturenbrett. Die Zahlen schienen so langsam zu wechseln, dass sie still die Sekunden zu zählen begann, bis sie ihren Rhythmus dem der Uhr angeglichen hatte. Was für eine
Weitere Kostenlose Bücher