Mitternachtsschatten
konnte, ob ihre Schwester ein Weinglas auch nur berührt hatte. Doch Rachel-Ann wirkte heute nicht nur unerwartet fröhlich, sie war auch vollkommen nüchtern.
„Du siehst großartig aus“, sagte Jilly.
„Danke, Liebling. Ich wünschte, ich könnte das Gleiche über dich sagen. Du siehst aus wie etwas, das die Katze reingeschleppt hat. Hast du den Tag am Strand verbracht?“
„Wie hast du das nur erraten?“
„Da läufst du doch immer hin, wenn es dir nicht gut geht. Ich flüchte zur Flasche, du rennst zum Meer. Deine Lösung ist vermutlich gesünder.“
Oh nein, bitte fang nicht damit an, dachte Jilly unglücklich.
„Warum geht es Ihnen nicht gut, Jilly?“ fragte Coltrane unschuldig.
„Ich musste feststellen, dass es im La Casa Ratten gibt“, entgegnete sie bitter. „Ich werde einen Kammerjäger bestellen.“
Er lachte, völlig unbeeindruckt. „Ich bin überzeugt, dass Sie selbst in der Lage sind, jegliches Ungeziefer ganz gut selbst zu vertreiben. Wenn Sie es wirklich wollen.“
„Ich kann Ratten nicht leiden“, sagte Jilly.
„Niemand kann Ratten leiden, Jilly“, sagte Rachel-Ann. „Und wir sollten auch nicht über Ungeziefer reden, das ist nicht sehr appetitlich. Sagen Sie mir, Coltrane, wohin gehen Sie, wenn Sie verärgert sind? Sie müssen auch einen bestimmten Ort haben.“
„Ich ärgere mich nicht“, entgegnete er einfach.
„Und ich glaube Ihnen kein Wort“, gab Rachel-Ann zurück. „Wohin gehen Sie, wenn Ihnen alles zu viel wird? Drogen, Alkohol, Sex? Kommen Sie, seien Sie nicht schüchtern. Dean hat diese kleine Party arrangiert, damit wir uns besser kennen lernen. Immerhin leben wir ganz eng zusammen. Was ist die Droge Ihrer Wahl, Coltrane?“
„Rache.“ Seine Antwort kam beängstigend schnell.
Selbst Rachel-Ann sah verblüfft aus. „Wie gesund das wohl sein mag, frage ich Sie? Und an wem wollen Sie sich rächen?“
„An jedem, der mir und den Meinen geschadet hat.“
„Mir und den Meinen?“ wiederholte Rachel-Ann. „Wie herrlich altmodisch. Welche schöne Maid müssen Sie rächen? Wessen Ehre ist beschmutzt worden?“ Sie zog ihn auf, und Jilly hätte ihr am liebsten Einhalt geboten. Es lag eine unangenehme Spannung im Raum, die Rachel-Ann ignorierte, aber selbst Roofus begann leise und verstört zu winseln.
„Meine Mutter“, antwortete Coltrane sanft.
Rachel-Ann riss die Augen auf und sagte keinen Ton mehr. Schnell sprang Jilly in die Bresche, bereit, alles zu tun, um das Thema zu wechseln. „Was hast du heute gemacht, Rachel-Ann? Gestern Nacht warst du ja ziemlich lange unterwegs.“ Das ist die falsche Frage, dachte sie im selben Moment, in dem sie sie ausgesprochen hatte. Es klang, als wollte sie ihre Schwester ausfragen, was ganz und gar nicht stimmte. Es spielte ja auch gar keine Rolle, ob sie wusste, wo Rachel-Ann sich herumtrieb oder nicht, ändern konnte sie ja doch nichts.
Ein kurzes, fast mädchenhaftes Lächeln huschte über das Gesicht ihrer Schwester und verschwand dann so schnell, als sei es ihr peinlich. „Tut mir Leid, falls du dir Sorgen gemacht hast. Ich habe die Nacht mit … einem alten Freund verbracht.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass du alte Freunde hast, Darling“, sagte Dean und stellte ein Tablett mit Gläsern auf den Tisch. „Ich dachte immer, die Typen hätten dich entweder fallen lassen wie eine heiße Kartoffel oder sich zu Tode gesoffen.“
„Sei nicht so eklig, Dean“, sagte Rachel-Ann freundlich. „Ich habe ausnahmsweise einmal gute Laune, verdirb sie mir nicht. Da fällt mir ein, weiß eigentlich jemand, was aus Consuelo und Jaime geworden ist?“
„Grandmères Köchin und der Chauffeur?“ fragte Dean. „Ich weiß nur, dass Jackson sie von heute auf morgen rausgeschmissen hat. Ich glaube, Jaime starb vor ein paar Jahren an einem Herzinfarkt, aber Consuelo lebt noch irgendwo in der Nähe. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern – hatten sie eigentlich Kinder?“
„Einen Sohn“, sagte Jilly. Sie beobachtete fasziniert, wie die Wangen ihrer Schwester ein wenig rot wurden. „Keine Ahnung, was er heute macht. Ich glaube, er hieß Richard.“
Rachel-Ann zuckte mit den Schultern und tat so, als interessiere sie das Thema nicht. „Spielt ja keine Rolle. Ich hatte nur eben an Consuelo denken müssen. Sie machte die besten huevos rancheros auf der ganzen Welt.“
„Allein bei dem Gedanken an Eier und Chili am Morgen wird mir übel“, sagte Dean.
„Es ist gar nicht so schlimm, wie man denkt“, murmelte
Weitere Kostenlose Bücher