Mitternachtsschatten
Rachel-Ann.
„Ich nehme an, du hattest nach deiner ausschweifenden Nacht huevos rancheros zum Frühstück?“ fragte Dean gewohnt taktlos.
„Es tut mir Leid, aber meine Nacht war nicht im Geringsten ausschweifend“, entgegnete sie überraschend stolz. „Ich hasse es, dich zu enttäuschen, liebster Bruder.“
„Das ist keine Enttäuschung, Liebes“, sagte Dean sanft. Trotz all seiner Boshaftigkeit zweifelte Jilly nicht eine Sekunde daran, dass er seine Schwestern wirklich liebte, fast so sehr wie sich selbst. Dieses kleine Familientreffen hätte wirklich nett werden können, wenn da nicht dieser Eindringling am anderen Ende des Sofas sitzen und sie beobachten würde wie ein Wissenschaftler ein paar Kakerlaken. Sie glaubte, nicht mehr länger bleiben und gesellig tun zu können. Aber sie verbot sich selbst, wegzulaufen, Coltrane würde sie nicht aus ihrem Haus vertreiben. „Wann essen wir?“ fragte sie schnell.
Dean sah sie vorwurfsvoll an. „Warum, hast du vielleicht vor, dir doch noch etwas anzuziehen, das dir mehr schmeichelt?“
„Nein, aber ich habe noch etwas zu erledigen.“
„Das kann warten“, sagte Dean und trank einen Schluck Wein. „Möchtest du denn nicht hören, wie der Rest von uns den heutigen Tag verbracht hat? Ist es nicht das, worüber glückliche Familien sich bei einem Cocktail unterhalten?“
„Wir sind keine glückliche Familie, und Rachel-Ann trinkt keine Cocktails“, stellte Jilly sachlich fest.
„Nebensächlichkeiten“, wehrte Dean ab. „Ich werdet nie erraten, was Coltrane heute getan hat.“
„Und es interessiert mich auch überhaupt nicht“, sagte Jilly. Sie kümmerte sich nicht länger darum, ob sie unhöflich klang. Sie musste hier einfach raus, dem abschätzenden Blick Coltranes entfliehen.
„Aber natürlich interessiert es dich, Darling. Denn er hat sich den ganzen Tag mit deinem geliebten La Casa beschäftigt. Der juristische Chefberater unseres Vaters hat ganz unerwartete Talente.“
Coltrane schwieg und betrachtete sie alle mit distanziertem Interesse.
„Na gut. Was hat er also den ganzen Tag über gemacht?“ fragte Jilly genervt; sie hatte absolut keine Lust auf diese albernen Spielchen.
„Er hat das Bad repariert. Wasserhähne und Mischbatterien und Abflüsse und ähnlich garstige Dinge. Er ist ein absolutes Wunder. Er kann sogar schwitzen!“
Automatisch sah sie Coltrane an. Er lümmelte entspannt auf dem Sofa und sagte kein Wort. „Das kann ich mir gut vorstellen. Sollte ich jetzt beeindruckt sein?“ fragte Jilly.
„Na hör mal, Liebes, das findet man nicht oft.“
„Da zeigt sich meine Arbeiterherkunft“, murmelte Coltrane. „Nicht jeder von uns kann ein blaublütiger Kalifornier sein.“
„Blaublütiger Kalifornier?“ wiederholte Dean. „Was für eine Idee! Ich frage mich, ob es so etwas womöglich wirklich gibt. Aber wir sind tatsächlich sehr privilegierte Menschen; ich streite das gar nicht ab. Auch wenn es nicht gerade ein Vergnügen ist, Jackson als Vater zu haben. Ich hätte es sicherlich vorgezogen, mit einem Versicherungsvertreter als Vater und Donna Reed als Mutter aufzuwachsen.“
„Das hätte dir auch nicht geholfen, Dean“, sagte Rachel-Ann. „Aus dir wäre das Gleiche geworden.“
„Stimmt. Was hat Sophie Tucker einmal gesagt? Ich bin reich gewesen, ich bin arm gewesen, reich sein ist auf jeden Fall besser! Schade, dass uns langsam das Geld ausgeht.“
Dean beugte sich vor und schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein. Bisher war keine Spur von Essen auf dem eleganten Tisch zu sehen, und Jilly stellte fest, dass sie zwar müde, verärgert und irritiert, aber auch völlig ausgehungert war. Sie hatte kein Frühstück gegessen und ihr Mittagessen fast vollständig an Roofus verfüttert. Zwar war es nicht so, dass dieses Treffen ihren Appetit besonders anregte, aber sie musste so schnell wie möglich etwas essen, sonst würde sie ohnmächtig werden.
„Ich habe übrigens den ganzen Tag am Computer verbracht.“
„Was für eine Überraschung!“ murrte Jilly.
„Ihr habt ja keine Vorstellung, wie unglaublich spannend es die letzten Tage war. Ich weiß, dass ihr denkt, ich chatte stundenlang mit Schwulen, aber ihr wärt überrascht, was man alles rausfinden kann, wenn man nur weiß, wo man nachsehen muss“, sagte er und klang ganz unschuldig.
Coltranes Anspannung war fast greifbar. „Was denn zum Beispiel?“
Dean drohte ihm spöttisch mit dem Finger. „Alles zu seiner Zeit, Coltrane. Ich werde alles
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