Mittsommersehnsucht
die Wale da sein.«
»Mit Sicherheit. Jetzt, im Sommer, tummeln sich die Walbullen genau vor Andenes.«
»Und warum gerade da?«
Magnus lenkte den Wagen geschickt über die nun sehr schmale Piste. Er umfuhr ein paar kleine Felsbrocken, die auf die Straße gerollt waren und ein zum Glück nicht allzu großes Hindernis bildeten. In der Ferne war schon die Stadt zu sehen, die auf einer Anhöhe lag und sowohl die Torfmoore wie auch die offene See zu bewachen schien.
»Weil die Tiefsee nur knapp zwanzig Kilometer vom Festland entfernt ist. Die Küste fällt unter Wasser steil ab, das ist für die Wale optimal.«
»Und es sind nur Bullen da?«
»Ja. Die weiblichen Tiere bleiben mit den Jungen in den warmen südlichen Gewässern. Aber die Bullen treibt es regelmäßig hoch in den Norden.«
»Verrückt ist das.« Andrea lehnte den Kopf an seine Schulter. »Aber auch sehr interessant.«
»Ja. Und es gibt eine sehr einfache, logische Erklärung für das Verhalten der Tiere: Weil es im Sommer nördlich des Polarkreises immerzu hell ist, wachsen Algen besonders gut. Und auch das Plankton und der Krill vermehren sich extrem stark, und somit finden die Wale reichlich Nahrung.«
»Faszinierend. Ich bin ja so gespannt, ob wir wirklich einen Wal zu sehen kriegen.« Andrea vergaß für eine Weile die Sorgen und Nöte, die man sich im Doktorhaus machte. Sie freute sich auf die Bootstour.
Harrys Boot lag bereits im Hafen, als sie eintrafen. Es war eine zirka dreißig Meter lange Yacht, die jeden Luxus bot. Harry, ein braungebrannter Mann von knapp vierzig Jahren, kam ihnen auf dem Bootssteg entgegen. Sein schwarzes Haar fiel ihm in einer verwegenen Locke ins Gesicht, die er immer wieder aus der Stirn schob.
»Willkommen auf der Lady Lou .« Er lachte Andrea an. »Schön, dich kennenzulernen. Magnus hat schon von dir geschwärmt und gesagt, dass du eine Klassefrau bist. Er hatte recht.« Er drückte ihre Hand und grinste jungenhaft. »Du gefällst mir wesentlich besser als Lilian.«
»Lilian? Wer ist denn das?« Stirnrunzelnd sah Andrea von Harry zu Magnus, dem Röte ins Gesicht stieg.
Harry schob sich wieder einmal die Haarlocke aus der Stirn. »Ach, eine flüchtige Bekannte von uns«, erklärte er betont locker. Dann machte er sich eilig an dem Tau zu schaffen, mit dem das Boot festgemacht war.
Andrea sagte nichts, doch der Tag hatte von einer Sekunde zur anderen viel von seinem Glanz verloren. Erst als sie weit auf die See hinausgefahren waren und der Fahrtwind ihr erhitztes Gesicht kühlte, hatte sie das Gefühl, wieder frei atmen zu können.
»Du, diese Lilian … das war ein Flirt, weiter nichts.« Magnus sah sie nicht an bei diesen Worten. Er kam sich schäbig und feige vor. Aber was sollte er sagen? Jetzt und hier war nun wahrlich nicht der richtige Zeitpunkt für eine Aussprache.
»Schon gut. Ich bin ja nicht naiv.« Andrea lachte, doch ihre Augen erreichte dieses Lächeln diesmal nicht. »Ich hab mir wirklich nicht eingebildet, du hättest bislang wie ein Mönch gelebt.« Sie streichelte kurz seinen Arm. »Ich hab ja schließlich auch meine Vergangenheit.«
»Da … da ist der Erste! Ein Riesenkerl ist das.« Harry drosselte den Motor und kam zu Andrea und Magnus, die an der Reling standen und angestrengt aufs Wasser blickten. »Ein Pottwal ist das, glaube ich.«
Andrea hob das Fernglas, das ihr Magnus mitgebracht hatte, an die Augen und schaute aufs Meer, das ganz ruhig war. Nur ein paar sanfte Wellen mit hellen Schaumkronen waren auszumachen.
Und dann, ganz plötzlich, schoss eine Wasserfontäne in die Höhe, der Wal war aufgetaucht, um Luft zu holen.
»Wow! Der ist ja riesig.« Wie ein grauer Berg tauchte das Tier aus dem Wasser auf. Der graue Rücken glänzte im Licht der Sonne. Dann tauchte der Wal auch schon wieder ab, die Finne, seine majestätische Flosse, peitschte das Wasser auf. Es war wie ein Winken zum Abschied.
»Und da sind drei kleinere Finnwale.« Magnus zeigte nach links. »Und gleich noch ein paar.« Er lächelte. »Die haben sich wirklich gut vermehrt in den letzten Jahren. Der Artenschutz hat Wirkung gezeigt.«
»Leider nicht bei allen Walarten«, warf Harry ein. »Seht mal, die Kerle da … mir scheint, die Orcas haben uns bemerkt und wollen sich präsentieren. Von denen gibt es auch viele. Sie haben, außer uns Menschen, keine Feinde.«
Fünf große Schwertwale, deutlich zu erkennen an ihrer fast schwarzen Haut mit den weißen Flecken, kamen neugierig näher ans Boot heran, was die
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