Mode ist ein glitzernder Goldfisch
Normalerweise bin ich Die-Mit-Der-Man-Sich-Abfinden-Muss-So-Wie-Es-Aussieht-Weil-Das-Andere-Mädchen-Die-Windpocken-Bekommen-Hat (Aufführung von »Aschenputtel«, fünfte Klasse).
Wilbur beugt sich vor. »Plumpudding«, sagt er ehrfürchtig. »Diesen Jungen musst du im Auge behalten. Er hat alles gemacht. Gucci, Hilfiger, Klein, Armani. Noch keine siebzehn Jahre alt und eines der erfolgreichsten männlichen Models in ganz London. Du kannst dich glücklich schätzen, mit ihm zu arbeiten, mein Honigtöpfchen. Er kann dich an die Hand nehmen. Er kann dich da durchtragen.«
Ich werfe rasch einen Blick auf Nicks Hand. Schön wärâs!, denke ich sehnsüchtig. Und dann überziehen sich meine Wangen mit einem Hauch Rosa.
»Du musst dir keine Sorgen machen, ehrlich«, sagt Nick ruhig und schaut aus dem Fenster. »Wir tauchen da auf, wir machen unseren Job, wir werden eingeschneit, wir fliegen wieder heim. Kein Aufstand.«
Ich nicke schnell; mein ganzer Kopf zischt und knistert inzwischen vor Anspannung. Kein Aufstand. Okay, ich kann versuchen, das zu glauben. Je näher wir dem Set kommen, desto realer wird das Ganze und desto deutlicher spüre ich die Panik wieder aufsteigen. Obwohl ich mich offen gestanden allmählich daran gewöhne. Die letzten paar Tage waren weniger wie eine Achterbahnfahrt, sondern mehr wie ein Flug in einer dieser Kapseln, in die sie Astronauten schnallen als Vorbereitung aufs All. Ich weià inzwischen nicht mehr so genau, wo oben und wo unten ist.
Aber es ist okay. Kein Aufstand.
Wilbur, mein Vater und ich verbringen 24 Stunden in Moskau, um Fotos zu machen. Zwanglose, fröhliche Fotos mit einer richtig teuren Kamera.
Und einem von Londons männlichen Topmodels und einem berühmten Fotografen. Und vielleicht Modelegende Yuka Ito, die in hundert Metern Entfernung Kaffee trinkt und mit angewiderter Miene Scheinwerfer an- und ausknipst.
Nur sechs Menschen, und einer von ihnen ist Löwen-Junge.
Kein Aufstand. Klar.
Mein Herz fängt an zu hämmern wie so ein kleiner Zinnsoldat in einem Weihnachtsfilm, und mein Mund fühlt sich plötzlich ganz taub an. Ich lecke mir die Lippen und versuche mich zu konzentrieren.
Ich habe es gewollt. Es war meine Entscheidung. Ich lüge für diese Sache. Und wozu treibe ich den ganzen Aufwand, wenn ich dann solche Angst habe, dass ich es nicht genieÃen und mich nicht davon verwandeln lassen kann?
Ich schaue aus dem Fenster und versuche, meine Atmung zu beruhigen. Moskau ist wirklich schön. Die Gebäude sind riesig und majestätisch, die Menschen tragen alle dicke Mützen und Schals, und zwischen den vielen Schneeflocken funkeln Lichterketten. Und wenn man ganz genau hinschaut, kann man hier und da einen Mann in Uniform entdecken, der mit einem riesigen Maschinengewehr in den Händen an einer Ecke steht.
Was ein wenig von dem weihnachtlichen Ambiente ablenkt, aber trotzdem: faszinierend.
Und dann ist da der Fluss: Er ist riesig und schimmert von all den Lichtern, deren Spiegelungen sich übers Wasser erstrecken. Genau wie in den Büchern, die ich zu Hause habe, und viel, viel besser als die Seine in Paris.
Was nicht rassistisch gegenüber Flüssen sein soll. Ich meine nur.
»Wir sind fast da, meine kleinen Schokodrops«, sagt Wilbur, als das Taxi um eine Ecke biegt. »Baby Baby Einhorn, wie geht es dir? Bist du ruhig? Gelassen? Zutiefst und rettungslos fashionable?«
Ich vollführe das am wenigsten überzeugende Nicken meines Lebens. »Mir gehtâs gut«, lüge ich, als das Taxi anhält. Plötzlich kommen mir die Hände in meinem Schoà vor wie lebendige Fisch: ganz glitschig und unfähig still zu halten. »Ich fühle mich toll«, fahre ich fort und schaue aus dem Fenster. »Ich bin â¦Â«
Und dann verstumme ich.
Denn vor uns liegt ein endlos weiter, vollkommen schneebedeckter Platz. An einer Seite ist eine kunstvolle rote Mauer, und an der anderen Seite ist ein groÃer weiÃer Palast mit üppigen Verzierungen. Wenn ich mich umdrehen würde, wäre hinter uns ein rotes, schlossartiges Etwas, aber direkt vor uns ist das schönste Gebäude, das ich je gesehen habe. Rot und blau und grün und gelb und gestreift und mit Sternen besetzt und garniert wie die aufwendigste Torte, die man sich vorstellen kann.
Und davor sind ungefähr fünfunddreiÃig Leute, sechzig Scheinwerfer, diverse Wohnwagen,
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