Modesty Blaise 01: Die tödliche Lady
mein Gott, dachte er plötzlich, und dabei muß ich ja wie ihr ältlicher Liebhaber aussehen, von dem sie sich aushalten läßt. Er wandte verstohlen den Kopf, um sie anzusehen, merkte aber, daß sie an ihm vorbeischaute, gefesselt von etwas auf dem Gehsteig, auf dem vor den Erdgeschossen Schutzgitter standen. Ein kleiner Junge mit Cowboyhut und Cowboygürtel hockte auf den Hausstufen und lugte durch das Gitter, eine Blechpistole in der Hand. Ein zweiter mit einer Pistole und einem Sheriffstern umklammerte den Pfosten eines freistehenden Briefkastens und guckte vorsichtig hinter ihm hervor. Als sie den Rolls-Royce erblickten, unterbrachen sie ihr Spiel auf einen Augenblick, um ihn zu betrachten.
Der Junge hinter dem Gitter hob die Pistole, zielte auf Tarrant, schrie «Peng!» und ging schnell in Deckung.
«Peng! Zeng!» Diesmal kam es vom Briefkasten her.
Ein kleiner Kopf tauchte vorsichtig auf, um den imaginären Schaden zu begutachten.
«Als ich noch klein war», sagte Tarrant nachdenklich, während sich der Wagen einige Meter vorschob, «sagten wir immer Bum! Nicht sehr lautmalend für einen Pistolenschuß, wenn man es rückblickend betrachtet –» Er brach erschrocken ab. Modesty hatte sich umgedreht und kniete geduckt auf dem Sitz. Sie hatte in Nachahmung einer Pistole die rechte Hand geballt, zwei Finger vorgestreckt.
Sie hob den Kopf über den Sitzrand, zielte auf die kleine Gestalt, die um den Briefkasten lugte, und schrie: «Peng!»
Das Bubengesicht strahlte in einem erstaunt entzückten Grinsen auf und verschwand. «Peng!» kam es vom Gitter her, ein zweites von der anderen Seite des Briefkastens, und eine schnelle Antwort von Modesty. Tarrant schluckte hart. Mit frostiger Genugtuung sah er, daß Wengs Nacken rot anlief und er am Lenkrad herumfingerte, ängstlich darauf bedacht, weiterzukommen.
«Peng!» Modesty schoß und duckte sich. Vom Gitter und vom Briefkasten her erfolgte eine Salve. Tarrant starrte mit einem Basiliskenblick zwei junge Frauen mit Einkaufskörben und einen Mann mittleren Alters an, die stehengeblieben waren, um dem Gefecht zuzuschauen.
Der Wagen vor ihnen setzte sich in Bewegung, und nach einem letzten «Peng» vom Gitter her bäumte sich Modesty auf, drehte sich herum und sackte auf dem Sitz zusammen. Als Tarrant zurückblickte, sah er die beiden winzigen Cowboys auf dem Gehsteig stehen und dem Rolls-Royce in anbetender Ehrfurcht nachblicken.
Als der Wagen um die Ecke gebogen war, setzte sich Modesty auf und strich eine Haarsträhne zurecht.
Ihre Augen funkelten vor Vergnügen. «Ich habe darüber eigentlich noch nie nachgedacht», sagte sie, «aber ich glaube, es klingt mehr wie ein Prellschuß.»
«Verzeihung?» Tarrant fuhr sich mit einem Finger um den Hemdkragen. «Was klingt wie ein Prellschuß?»
«Peng. Sie haben über Bum und Peng gesprochen.»
«Ach ja. Ich fürchte, Sie haben Ihrem Chauffeur Anlaß gegeben, sich für Sie zu schämen.»
«Das zweifellos.» Sie grinste spitzbübisch, beugte sich vor und klopfte Weng auf die Schulter. «Der Jammer mit dir, Weng, ist, daß du ein Snob bist.»
«Danke, Miss Blaise.» Er sprach zwar mit einem Akzent, aber gepflegt. «Ich versuche, einer zu werden.»
«Warum tust du dann nicht, was ich dir sage, und studierst, um Karriere zu machen?»
«Sie haben mich in Hongkong auf die Schule geschickt und dann drei Jahre hier an die Universität, Miss Blaise. Das genügt.»
«Das ist doch bloß ein Anfang. Willst du denn dein ganzes Leben lang Hausboy bei mir bleiben?»
«Ja, Miss Blaise. Danke.»
Tarrant merkte sich im Geiste vor, daß er sich eines Tages bei Gelegenheit nach Weng erkundigen würde.
Er witterte eine Geschichte, die vielleicht eine weitere neue Seite an Modesty Blaise verriet; und ihr vielseitiger Charakter fesselte ihn immer stärker.
Als ihnen der Portier des
Ritz
die Wagentür öffnete, grüßte er würdevoll. Tarrant half Modesty aus dem Wagen, und sie betraten das Hotel. Der Empfangschef kam zu ihrer Begrüßung hinter seinem Pult hervor.
«Miss Blaise, Sir Gerald – Seine Hoheit sind im zweiten Stock. Der Lunch wurde in seiner Suite serviert.»
«Serviert?» Tarrant hob die Brauen. «Wir sind doch bestimmt nicht zu spät gekommen, Mr. Manetta?»
«Keineswegs. Aber Seine Hoheit wünschte, daß alles bereit sei. Wollen Sie mir bitte folgen?»
«Sie haben doch keine – äh – Schwierigkeiten mit unserem Gast und seinem Gefolge?» fragte Tarrant auf dem Weg zum Lift.
«Wir im
Ritz
haben nie
Weitere Kostenlose Bücher