Modesty Blaise 05: Die Goldfalle
schlafende Haus wie ein Schatten.
In der Küche fand sie eine Taschenlampe. Mit der Küchenschere schnitt sie vom unteren Rand ihres Hemdes einen Streifen ab, in den sie in der Mitte ein winziges Loch bohrte; diesen Streifen band sie über den Reflektor, so daß die Lampe nur noch einen bleistiftstarken Lichtkegel aussandte. In einer Schublade lagen mehrere Küchenmesser, und sie nahm eines mit einer fünfzehn Zentimeter langen Klinge und steckte es in den Stiefel. Eine halbe Stunde lang suchte sie Türen und Fenster nach Alarmanlagen ab, fand aber keine.
Wenn es morgen nacht soweit war, würde sie das Haus ohne Schwierigkeiten verlassen können.
Während sie das Haus durchstreifte, hielt sie Ausschau nach allem, was ihr nützen konnte und nicht gleich vermißt werden würde, wenn sie es mitnahm.
Sie glaubte nicht, daß das Fehlen des Küchenmessers und der Taschenlampe Verdacht erregen würde. In einem der Küchenschränke fand sie ein leeres Salzfaß, das sie nie in Gebrauch gesehen hatte. Es war aus Hartholz, und der Streuer war wie der Hut eines Pilzes aufgeschraubt. Wenn sie es in die Faust nahm, stand es zu beiden Seiten einen Zoll hervor. Es würde einen guten behelfsmäßigen Kongo abgeben. Deshalb steckte sie es in die Hosentasche.
Als sie mit ausgeschalteter Taschenlampe im Dunkeln stand und ihre Reaktionen testete, fand sie, daß ihre Nerven ruhig waren und Zuversicht sie gleichmäßig durchströmte. Das war die geistige und nervliche Verfassung, die sie seit eh und je als normal empfand, und die Erleichterung darüber, daß sie ihre alten Fähigkeiten zurückgewonnen hatte, war über alle Maßen tröstlich.
Zehn Minuten später entdeckte sie, daß das obere Stockwerk des Nordflügels abgeschlossen war. Hier lagen die Schlafzimmer von Brunel und Lisa, Chance und Jacko. Diese Räume waren nur durch einen langen Korridor zu erreichen, der vom oberen Treppenabsatz nach Süden und Norden verlief, und in der Mitte des nördlichen Armes dieses Korridors war eine massive Tür. Sie war abgeschlossen, und sie kauerte lange Minuten in der Dunkelheit auf dem Boden und überlegte, ob sie sie zu öffnen versuchen solle oder nicht. Die Versuchung war groß. Wenn sie an Brunel und seine Vertrauten herankam, während sie im Schlaf lagen – aber nein. Die Fähigkeit, eine Gelegenheit zu nutzen, sobald sie sich bot, war eine ihrer stärksten Seiten. Sie hatte sie oft eingesetzt, um einen Nachteil in einen Vorteil zu verwandeln. Aber ihr Instinkt sagte ihr, daß dies nicht die richtige Gelegenheit sei. Brunel war nicht der Mann, sich hinter einer Tür zu verschanzen, die ohne weiteres zu öffnen war. Obwohl sie auf ihrer Seite kein Anzeichen dafür entdeckte, war sie überzeugt, daß die Türen innen an eine Alarmanlage angeschlossen war.
Dasselbe würde für die Schlafzimmerfenster gelten. Das war der als Festung ausgebaute Teil des Hauses, und deshalb mußte man hier vorsichtig sein.
Sie steckte das Drahtstück wieder ein und zog sich den Korridor entlang zurück. Zu beiden Seiten waren Türen, und dahinter lagen die Schlafzimmer der Aufseher. Sie hatte sie hin und wieder beobachtet, wie sie aus ihren Zimmern kamen oder zu ihnen hinaufgingen.
Camacho schnarchte. Sie lauschte eine Weile vor seiner Tür, überlegte, schob dann vorsichtig den Riegel zurück und schlich hinein. Fünf Minuten lang wartete sie, bis sie die schlafende Gestalt erkennen konnte. Er lag auf dem Bauch, und ein Arm hing aus dem Bett.
Sie knipste die Taschenlampe an und ließ den dünnen Lichtstrahl über die Wände des Zimmers wandern, bereit, ihn auszuschalten, falls sein Atemrhythmus sich ändern sollte. In einem Wandständer war ein Jagdgewehr, und ein Webley-Revolver mit Holster hing über der Lehne eines Stuhls.
Wieder konnte sie nur mit Mühe der Versuchung widerstehen, aber es war nicht der richtige Augenblick.
Morgen nacht, bevor sie zu Giles ging, würde der geeignete Zeitpunkt sein, um sich das Gewehr zu holen.
Lautlos zog sie sich zurück und schloß die Tür, dann ging sie in den Südflügel hinüber, in ihr eigenes Zimmer. Als sie die Tür mit dem Drahtstück wieder verschlossen hatte, versteckte sie ihre wenigen Beutestücke hinter dem Wasserbehälter in der Duschkabine und zog sich aus. Ihre Stimmung war jetzt sehr gut, bis auf den tiefsitzenden Schmerz, der sie an ihre Trauer um Willie gemahnte. Und das, wußte sie, war etwas, womit sie von nun an würde leben müssen.
Es sieht recht gut aus, Willie, sagte sie ihm, als
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