Modesty Blaise 06: Die Lady macht Geschichten
steckte.
«Gestern überfiel sie mich damit», sagte Modesty.
«Und du weißt, wie Madge ist, wenn sie zu etwas entschlossen ist. Man kann einfach nicht widerstehen.»
«Ich versuchte es niemals», sagte Willie träumerisch.
Modesty lachte und steckte ein Fähnchen an seinen Rock. Er stellte fest, daß es sich um ein Hilfswerk für Geisteskranke handelte und daß auf ihrem Tablett nur noch zwanzig Fähnchen übrig waren.
«Wird nicht lange dauern, sie zu verkaufen, Prinzessin. Wie wäre es mit einem Lunch nachher?»
«Ich bat Tarrant zum Lunch ins Penthouse. Komm mit mir nach Hause, dann können wir vorher zehn Minuten ins Schwimmbad gehen.»
«Fein. Ich warte im Wagen.»
Ein Mann blieb stehen und suchte in seinen Taschen. Willie wandte sich ab. Während er auf eine Pause im Verkehrsstrom wartete, um die Straße zu überqueren, hörte er Modesty mit frostiger Höflichkeit sagen: «Für 2 Pence müssen Sie sich das Fähnchen selbst anstecken, Sir.»
Sie war gereizt, dachte Willie. Sehr gereizt. Irgend etwas mußte geschehen sein. Ungewöhnlich, daß sie kein Wort erwähnt hatte. Oder war es nur das Fähnchenverkaufen, bei dem man als Mädchen vermutlich einige ärgerliche Erfahrungen machte?
Als er den Gehsteig verließ, hörte er wieder ihre Stimme: «Danke. Für Sixpence dürfen Sie das Kinn hochstrecken, während ich Ihnen das Fähnchen anhefte. Der Mindestpreis für einen Blick in meinen Ausschnitt beträgt 3 Shilling.»
Willie lächelte. Nein, das war zweifellos nicht ihre Art der Wohltätigkeit.
Sir Gerald Tarrant saß an einem Tisch neben dem für Hausbewohner reservierten Schwimmbecken unterhalb des Luxus-Apartmenthauses am Hyde Park. Vor ihm stand ein Campari-Soda. Er fühlte sich zufrieden und entspannt. Der Geheimdienst des Außenamtes, der ihm unterstand, hatte einige schwere und vertrackte Probleme zu lösen, aber während der nächsten neunzig Minuten würden sie für ihn nicht existieren.
Im Augenblick gab es nichts, das so aussah, als könnte es zu einem jener ungewöhnlichen Spezialaufträge werden, die das Interesse von Modesty Blaise erweckten. Das war für Tarrant ein sehr erfreulicher Gedanke.
Er hatte im Laufe der Zeit mehr als einen Menschen in den Tod geschickt; es war ein unvermeidlicher Teil seiner Arbeit, aber jene, die starben, waren bezahlte Agenten. Modesty Blaise war das nicht.
Trotzdem hatte er sie eingesetzt, natürlich auch Willie Garvin, und zwar schon einige Male. Beide trugen noch die Narben, die diese Abenteuer ihnen eingetragen hatten. Tarrant hatte sich geschworen, für keine weiteren Narben mehr verantwortlich zu sein. Und er hoffte, seinen Schwur zu halten.
Vor ein paar Minuten waren Modesty und Willie an ihm vorbeigeschwommen. Er beugte sich vor und sah, daß die Wasseroberfläche glatt war. Die beiden lagen im tiefen Teil des Beckens auf dem Boden, kaum einen Meter voneinander entfernt und vollkommen bewegungslos.
Um so unter Wasser zu bleiben, mußten sie alle Luft aus den Lungen gepreßt haben, überlegte Tarrant. Er fragte sich, welchen Zweck das haben sollte. Vermutlich würden es andere Menschen unverständlich und scheinbar sinnlos finden. Doch diese zwei gingen ihren eigenen skurrilen Interessen und Belustigungen nach, ohne sich darum zu kümmern, was andere von ihnen dachten.
Eine Minute verstrich. Endlich tauchten sie gemeinsam auf und schwammen zu der Seite des Beckens, wo Tarrant saß.
«Ich bin sicher, es ist proportional», sagte Willie ein wenig außer Atem.
«Ja.» Modesty schüttelte das Wasser von ihrem Gesicht. «Bis zu einem gewissen Punkt jedenfalls. Je mehr man das Blut mit Sauerstoff anreichert, bevor man taucht, desto länger kann man ohne Luft in den Lungen unten bleiben. Und man braucht keine Gewichte.»
«Kann vielleicht einmal nützlich sein. Ich nehme an, daß man nach zehn Minuten tiefen Einatmens mit ein wenig Übung drei bis vier Minuten unten bleiben kann, nachdem man völlig ausgeatmet hat.»
Willie schwang sich aus dem Wasser, reichte Modesty die Hand und zog sie aus dem Becken. Während sie ihre Badekappe ablegte, sagte Tarrant: «Hattet ihr beiden wieder einmal eines jener mörderischen Trainingsspiele in Willies Sporthalle?»
Modesty schüttelte den Kopf. «Nicht im letzten Monat. Warum?»
«Ihr – hm – Oberschenkel hat eine Quetschwunde.»
Tarrant wies mit dem Finger. Hinten auf der Hüfte, knapp unter dem Ende des Badeanzugs, war ihr festes Fleisch durch eine häßliche purpurrote Quetschung verfärbt.
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