Modesty Blaise 08: Heiße Nächte für die Lady
das Bewußtsein von Schmerz, Erschöpfung und Mühsal abschaltete, und vor allem, wie man nur in der Gegenwart, in einer Spanne von Augenblicken lebte, damit alles Vergangene und alles Künftige keine Wirkung ausübte und keine Energie abverlangte.
Am vierten Tag, als sie den Kamm der langgestreckten flachen Bodenwelle erreicht hatten, hockte Maude mit einer Taschenlampe neben Willie und leuchtete ihm, während er den kleinen Empfänger für ihren mitternächtlichen Routineempfang vorbereitete. Dann schaltete er ein, drückte sich den Minihörer ins Ohr und begann, die Ringantenne ganz langsam kreisen zu lassen. Sie versuchte, sein Gesicht im Lichtkreis der Taschenlampe zu erkennen. Er hielt sein Handgelenk in den Lichtstrahl und blickte auf die Uhr. Eine Minute nach zwölf. Wiederum drehte er die Antenne, sehr langsam. Sie sah seinen Kopf hochzucken, hörte zugleich selbst das schrille Geräusch. Er riß sich den Hörstöpsel aus dem Ohr, hielt ihn ein paar Zentimeter von sich weg und drehte nun aufmerksam die Peilantenne, um nach dem stärksten Zeichen zu suchen. Später sagte er: «In Ordnung. Nimm hiervon die Marschzahl.»
Maude lag auf dem Bauch, hielt den Kompaß am Auge und visierte an der Peilantenne entlang. «Ich hab es, Willie.»
Er schaltete ab, und gemeinsam schauten sie auf den Kompaß. Maude schwenkte den Strahl der Lampe in den engen Pfad hinein, den sie in der letzten Stunde geschlagen hatte. «Wir sind nur ein paar Grad von der Richtung ab», stellte Willie fest.
«Nicht schlecht.»
«Nicht schlecht für mich. Die Prinzessin wäre in schnurgerader Linie ohne Kompaß gegangen.»
«Ach was!»
«Nein, ehrlich. Sie hat einen Instinkt dafür.»
Maude seufzte. «Wenn ich sie nicht gern hätte, müßte ich eine verdammte Mordswut auf sie haben. Was macht sie denn eigentlich nicht gut?»
Ein geisterhaftes Kichern klang aus der Dunkelheit:
«Singen, nähen, malen, mit Vertretern verhandeln, Bekanntschaften schließen, Leute ertragen, Plätzchen backen, Briefe schreiben, Blumen pflegen, Verpflichtungen aus dem Wege gehen, sich aus Schwierigkeiten raushalten … und so weiter.»
Maude blickte auf den kleinen Empfänger. «Ich nehme an, die Bodenwelle hat bis jetzt das Signal verschluckt. Aber ganz klar, Modesty lebt noch.»
Die Taschenlampe weiter drehend, sah sie, wie Willie nickte und sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Oberlippe wischte. «Ich fing an, mir ein bißchen Sorgen zu machen», gestand er.
Seitdem war jede Nacht das Signal durchgekommen und immer stärker geworden. Zwei Tage lang ging es durch dünneren Busch, und sie schafften zwölf Meilen.
Wasser war kein Problem, denn in dem halbdunklen Wald gab es genügend Lachen und Tümpel. Sie mußten es durch Nylon filtern und abkochen, denn ihr halber Vorrat an Halazontabletten war mit Maudes Packen verlorengegangen. Aber sie brauchten keinen Durst zu leiden. Ihre Konservenverpflegung ergänzte ein fasanähnlicher Vogel, den Willie aus zwanzig Schritt Entfernung von einem Ast heruntergeholt hatte. Die Jagdbeute wog zwölf Pfund und lieferte Fleisch für drei Tage.
Willie schätzte, daß sie jetzt nicht mehr als vier Tagemärsche von ihrem geheimnisvollen Ziel entfernt waren. Nachdem sie eine Dose Eintopf verzehrt, ein paar Vitamintabletten geschluckt und sich in ihren Hängematten ausgestreckt hatten, um auf das Mitternachtssignal zu warten, sagte Willie: «Angenommen, Maude, es gäbe Reisen durch die Zeit.»
Sie räkelte sich in der Dunkelheit und fragte sich halb unbewußt, wie es kam, daß sie jetzt eine Zufriedenheit und ein Glücksgefühl verspürte, die weit stärker waren als je zuvor.
«In Ordnung. Ich bin eine solche Reisende, Willie. Wo ist der nächste Halt?»
«Das ist das Problem. Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder du kannst fünfhundert Jahre in die Vergangenheit gehen, auf ein paar Jahre kommt es da nicht an, und dir anschauen, wie es damals aussah. Oder du kannst fünfhundert Jahre in die Zukunft springen und erleben, wie die Welt dann sein wird.»
«Die Kandidaten müssen die Entscheidung genau darlegen und Gründe für dieselbe angeben?»
«So ist es.»
Sie dachte eine Weile nach, kratzte sich zerstreut die allmählich verschwindenden Flecke auf dem Bauch.
«Irgendwo in der Welt? Ich meine, ich sehe nicht viel Sinn, im späten 15. Jahrhundert in Nordamerika zu sein. Nur Indianer und Büffel. Was geschah in England?»
«Du bist in der Zeit Heinrichs VII. und der Tudors.»
«Die Könige
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