Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
einen kleinen Punkt.
Sie steckte den Pfeil in das Rohr, hob das andere Ende mit beiden Händen an die Lippen, atmete tief ein und stieß die Luft fast im selben Moment heftig wieder aus. Man hörte ein gedämpftes Geräusch, als der Pfeil die Matratze traf und sich so tief hineingrub, daß man nur noch die Plastikstabilisatoren sah, zwei weiße Flecken auf dem Grau, und nur knapp einen Zentimeter neben dem roten Punkt in der Mitte der Zielscheibe.
Willie zog den Pfeil vorsichtig wieder heraus und kam strahlend zu ihr herüber. »Wunderbar«, flüsterte er ihr zu und gab ihr den Pfeil zurück. »Aus demselben Draht habe ich auch noch einen Dietrich gemacht.« Er zeigte ihr ein kurzes Stück Stahldraht, das an einem Ende so gebogen war, daß zwei einander gegenüberliegende rechte Winkel entstanden.
Sie nickte ihm zu. »Na, dann los.«
Er kniete sich vor die Tür. Nach vierzig Sekunden hatte er die Zuhaltung des einfachen Schlosses gefunden und überlistet. Während dieser Arbeit fiel ihm auf, daß im Laufe der letzten halben Stunde, in der er sich auf andere Dinge konzentriert hatte, die Geräusche von oben wesentlich lauter geworden waren, was auf eine erhöhte Aktivität auf dem Oberdeck schließen ließ.
Höchstwahrscheinlich waren die Einsatztruppen der
Watchmen
inzwischen von der Insel auf das Bohrschiff geholt worden und nun damit beschäftigt, ihre Ausrüstung in das Mutterschiff zu verladen, das sie zusammen mit den Waffen und den Kanus bis kurz vor Porto Santo bringen würde.
Als er sich wieder aufrichtete, flüsterte Modesty:
»Ich muß höher stehen, um den richtigen Winkel zu erwischen. Auf deinem Rücken, würde ich sagen.«
»Wird gemacht.«
Sie reichte ihm das Blasrohr. Er drehte sich um, und sie setzte sich auf seinen Rücken. Dann gab er ihr das Rohr wieder, hielt ihre Beine mit beiden Händen fest und trat einen großen Schritt von der Tür zurück. Modesty prüfte den Sitz des Pfeils und führte das vordere Ende des Blasrohrs mit der Hand in die unterste Öffnung der Lüftungsklappe ein, wobei sie den Kopf so bog, daß sie durch den direkt darüberliegenden, elliptischen Schlitz freie Sicht auf Szabo hatte. Er hatte seine Stellung nicht verändert, saß etwas zurückgelehnt auf dem gekippten Stuhl und hielt die Sterling-MP einsatzbereit auf den Knien.
»Etwas herunter«, hauchte sie. Willie spreizte die Beine. »Ja, gut so. Jetzt ein Stückchen nach vorn.«
Szabo blickte zwar genau auf die Tür, aber wenn er nicht gerade die Luftklappe selbst musterte, würde ihm der kleine Ring darin kaum auffallen, und mehr konnte er aus seiner Perspektive von dem Blasrohr nicht sehen.
Sie befeuchtete ihre Lippen und schloß sie um das Rohr, ohne dabei den Blick von Szabo zu nehmen.
Während Willie sich vorwärts bewegte, unterstützte sie das leichte Rohr von unten mit der Hand, damit es kein Quietschen von sich gab, während es sich langsam mehr als dreißig Zentimeter durch den Luftschlitz schob. Dann preßte sie die Beine fest zusammen, und Willie blieb stehen. Es war eine günstige Schußposition. Szabo saß so, daß der Pfeil ihn in einem leicht ansteigenden Winkel treffen mußte und daher wahrscheinlich nicht an einer Rippe abprallen konnte. Im selben Moment, als sie Luft holte, hob sich Szabos Kinn, und er starrte genau auf die Lüftungsklappe. Mit explosionsartiger Wucht stieß sie die Luft aus ihren Lungen.
Szabo hatte eben bemerkt, daß irgend etwas an der Luftklappe vor sich ging, als er ein kurzes, leises Geräusch hörte. In diesem Moment verspürte er plötzlich einen leichten, aber für ihn unbegreiflichen Schlag, so als hätte ihn eine unsichtbare Faust hart auf die Brust geboxt. Er blickte an sich herunter und sah etwas Schmales, Weißes, das da unter dem dritten Knopf aus seinem Hemd ragte. Kleine Stückchen … Plastik? Sie steckten in … in irgend etwas anderem … ?
Er wollte den Kopf wieder heben, hatte jedoch nicht die Kraft dazu. In seinem Inneren spürte er ein sonderbares Strömen. Er wußte zwar nicht, daß die Spitze des stählernen Pfeils ihm die rechte Herzkammer aufgerissen hatte, aber die ersten Wellen von Angst und Panik stiegen gerade in ihm auf, als erst seine Sehkraft und dann das Bewußtsein aussetzten. Er starb, ohne sich überhaupt bewegt zu haben, und saß nun zusammengesunken auf seinem Stuhl in der Ecke, die MP immer noch auf den Knien.
Im Krankenzimmer tippte Modesty Willie auf die Schulter, rutschte von seinem Rücken herab und sagte ruhig: »Das war
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