Modesty Blaise 11: Die Lady spannt den Bogen
waren. Es konnten sich sehr wohl noch ein paar Lebensgeister in ihm regen, auf keinen Fall dachte sie daran, ihn allem zurückzulassen. Sie fand sich nicht mit irgendetwas ab, das schließlich unvermeidlich passieren mußte, weil sie noch nie in der Lage gewesen war, eine Situation als endgültig verloren aufzugeben. Auf den Gewässern der Bucht verkehrten ja Schiffe, auch in der Nacht, und vor allem gegen Morgengrauen. Im ersten Licht des Tages könnte sie von einem Kutter der Küstenwacht, von einem Krabbenfischer, von einem Schleppdampfer oder von einem Sportsegler, der den frühen Morgen ausnutzte, entdeckt werden.
Sie stellte sich die Karte des diesseitigen Ufers vor.
Nach Fort Point fiel die Steilküste in einer weiten Kurve zurück, der Waldboden senkte sich langsam zum Jachthafen hin, dann kamen Fort Mason und das Meeresmuseum und dahinter Fisherman’s Wharf. Die Strömungen in der Bucht änderten sich dauernd, und sie nahm an, daß die Flut sie mit drei bis fünf Knoten dahintrieb. Sie konnte jedoch unmöglich abschätzen, wo sie an Land kommen würde, und jetzt, da sie sich völlig verausgabt hatte, konnte sie auch keinerlei Einfluß mehr auf ihre Richtung ausüben.
Sie schob Bens Kopf wieder auf die Brust, legte ihre Hände um seinen Körper, um ihn fest im Griff zu haben, und versetzte sich dann wieder in den Trancezustand, in dem sie alle Lebensfunktionen in sich bewußt verlangsamte, um die ihr verbleibenden Energien zu horten, und ließ nur einen Funken ihrer Aufmerksamkeit bei Bewußtsein, mit dem sie Veränderungen in ihrer Umgebung wahrnehmen konnte.
9
»Entschuldigen Sie bitte, sind Sie Mr. Garvin?«
Sie war ein schlankes, gutaussehendes Mädchen um die Mitte der Zwanzig, schwarz und mit wundervollen Augen, und sie wartete in der Halle nach der Zollabfertigung auf ihn, als er sie kurz nach fünfzehn Uhr betrat.
»Ja, der bin ich. Willie Garvin.« Seine blauen Augen sahen sie prüfend an.
»Ich bin Beryl, die Freundin von Kim Crozier.«
»Ach, Kim.« Er entspannte sich ein wenig, fuhr jedoch zusammen, als ihr dünner Mantel aufging und sein Blick auf den weißen Krankenschwesternkittel fiel, den sie darunter trug. »Ist Modesty etwas zugestoßen?«, fragte er sofort.
»Nein.« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Sie hat zwar Furchtbares durchgemacht, aber jetzt geht es ihr ganz gut.«
»Ist sie verletzt?«
»Nein, nur sehr erschöpft. Ein paar kleine Erfrierungen. Kim meint zwar, sie müßte eigentlich schon längst tot sein, aber in ein oder zwei Tagen wird sie wieder auf dem Posten sein.« Willie atmete vor Erleichterung aus. »Danke, Beryl. Wo ist sie jetzt?«
»Sie hat ein Zimmer im Ashfield Hospital, und Kim ist ihr Arzt. Gegen sechs Uhr früh heute, kurz bevor sie eingeschlafen ist, hat sie jemanden namens Tarrant in London angerufen, und der hat ihr gesagt, daß Sie mit diesem Flug ankommen, deshalb hat Kim mich gebeten, herzufahren und Sie abzuholen. Gehen wir rüber zum Parkplatz, Mr. Garvin, es kann manchmal eine ganze Weile dauern, bis man den Verkehr hier auf dem Flughafen hinter sich gelassen hat.«
»Nennen Sie mich Willie.«
Eine Viertelstunde später erreichten sie eine schwach befahrene Autobahn und fuhren nach Norden. Der Wagen war ein Aston Martin, der Kim gehörte, und sie hatte ihn sehr gut im Griff, schaltete jedesmal, bevor der Motor allzu angeberisch aufheulte. Als der Flughafen hinter ihnen lag, fragte Willie: »Wissen Sie etwas über einen Mann namens Ben Christie?«
»Ja.« Sie warf ihm einen kurzen Blick zu. »Es tut mir leid, Willie, aber er ist tot. Möchten Sie, daß ich Ihnen erzähle, was ich von der Sache mitbekommen habe, oder wollen Sie lieber alles zusammen von Modesty hören?«
»Schläft sie denn jetzt nicht?«
»Etwa eine halbe Stunde, bevor ich losgefahren bin, ist sie aufgewacht. Kim hat zwei Leuten vom CIA erlaubt, um vier mit ihr zu sprechen. Also, ich glaube jedenfalls, sie sind vom CIA. Könnten aber auch vom britischen Geheimdienst oder so sein.«
»Dann sagen Sie mir bitte, was Sie bis jetzt wissen, Beryl. Den Anfang kenne ich, das mit Modesty und Kim im China-Restaurant, und daß sie Ben Christie eventuell enttarnt hatte.«
»Ja, das hat mir Kim auch erzählt, und er fand, sie würde sich deswegen unnötig Sorgen machen, aber er hatte sich geirrt. Das Dumme war nämlich, daß der Mann, der mit Ben Christie zusammen war, sie von früher kannte, aber sie hatte ihn nicht erkannt, weil er inzwischen einen Bart trägt und weil sie
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