Möhrchenprinz - Roman
Wohnungsbesichtigungen und einem stressigen Wochenbeginn im Büro fuhr ich am Montagabend in Hochstimmung nach Hause. Es war der dreißigste April, zwei Monate nach Svenjas Abreise, und da der nächste Tag ein Feiertag war, konnte ich mitten in der Woche ausschlafen. Trotzdem wollte ich nicht feiern gehen, sondern freute mich auf einen ruhigen Abend auf dem Balkon. Daniel würde erst zur Wochenmitte aus den USA zurückkommen, und so könnte ich die Abendsonne mit den Füßen auf dem Geländer seines Balkons und einer Tasse Kakao gegen die abendliche Kühle genießen.
Daraus wurde nichts. Daniel war zu Hause. Er trug die Jeans, die er seit seinem Gesinnungswandel praktisch ständig trug, ein T-Shirt mit dem Abbild eines mit Pfeil und Bogen bewaffneten Engels und war barfuß.
»Ich habe gekündigt«, empfing er mich. »Dieses Leben im Dienste des schnöden Mammons ist nicht sinnvoll, nicht nachhaltig und nicht gesund. Der Boss hat mich gleich gehen lassen, denn es gibt nichts Gefährlicheres als einen angepissten Trader, frag die Griechen.« Er grinste so breit, dass ich die Stellen sehen konnte, wo ihm vor fünfzehn Jahren die Weisheitszähne entfernt worden waren.
Ich schnappte nach Luft.
»Ach, Sweetie, ich freue mich auf die Freiheit!«
Er kam auf mich zu, umarmte mich, hob mich hoch und wirbelte mich herum.
»Und jetzt?«, fragte ich matt.
»Jetzt feiern wir.«
Daniel lud mich auf seinen Balkon ein, der eigentlich meiner sein sollte, und spendierte eine Flasche Rotwein aus kontrolliert-biologischem Anbau. Ich schüttete das erste Glas in einem einzigen Schluck runter und trank mehr, als mir guttat. Daniel referierte darüber, was er nun mit seinem Leben alles anfangen würde, um die Welt doch noch zu retten, bevor sie völlig durch den Abfluss strudelte.
»Daniel, meinst du nicht, dass du übertreibst? Nur um es Svenja recht zu machen?«
Er stutzte. »Natürlich will ich mich auch ändern, damit Svenja mich akzeptieren kann, wenn sie zurückkommt, aber das ist doch nicht mehr der einzige Grund, Sweetie. Ich habe eingesehen, dass mein Leben falsch war.«
Eigentlich hatte ich gehofft, dass mit zunehmender Entfernung und längerer Trennung zwischen dem Liebenden und seiner Angebeteten eine Ernüchterung bei Daniel einsetzen und er wieder zu sich kommen würde, aber das schien mir jetzt aussichtslos.
Ich seufzte.
»Nicht traurig sein, Sweetie, wir retten die Welt schon noch. Lass mich nur machen.«
Leider kapierte Daniel nicht einmal ansatzweise, dass es nun mein Leben war, das den Bach runterging, weil mein Bruder eben ein Weltenretter und kein Schwesternretter sein wollte. Womit hatte ich das verdient? Ich musste dringend hier weg.
Ich erwachte, weil Daniel gegen meine Tür hämmerte, meinen Namen rief und ein Wort, das wie Demo klang.
Mein Bruder hasste Demos. Er war nie auf einer einzigen Demo gewesen, während ich in den letzten Schuljahren und mein ganzes Studium hindurch für und gegen alles Mögliche demonstriert hatte. Gegen den Irakkrieg,für Frieden im Nahen Osten, gegen den Afghanistaneinsatz, für den Atomausstieg, gegen Studiengebühren, für das Bleiberecht eines ausländischen Kommilitonen, gegen den Lauschangriff, für das Kommunalwahlrecht für ausländische Mitbürger … Genau genommen war dieser erste Mai der erste seit geschätzten zehn Jahren, den ich ohne Demo verbringen wollte.
»Was?«, nuschelte ich, als ich ihm endlich gegenüberstand. Er hatte nicht aufgehört, gegen die Tür zu hämmern, bis ich sie geöffnet hatte.
»Wir gehen zur Demo. Die Sonne scheint, es ist warm und …«
»Welche Demo? Erster Mai? Bist du jetzt in der Gewerkschaft, damit dein Millionenbonus um sechs Prozent erhöht wird?«
»Ich habe gekündigt, vergessen?«
Das Hämmern in meinem Kopf legte an Stärke zu. Vergessen war eine prima Sache, befand ich und überlegte, statt zu frühstücken gleich wieder zum Alkohol zu greifen.
»Die Demo, zu der wir gehen, ist total abgefahren. Sehr lohnend. Zieh dich an, in einer halben Stunde geht es los!«
Ich hatte abhängen wollen, am Rhein entlangbummeln, ein Eis essen, normale Dinge eben, die umso reizvoller wurden, je mehr Überstunden man machte, aber Daniel ließ keine Ausrede gelten. Ich zog mich an, schüttete eine Tasse Kaffee runter, die Daniel gekocht hatte, löffelte eine kleine Schüssel Müsli und latschte immer noch schläfrig hinter meinem ausgerasteten Bruder her, der voller Tatendrang durch die frühsommerlichen Straßen schritt.
An der
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