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Möhrchenprinz - Roman

Möhrchenprinz - Roman

Titel: Möhrchenprinz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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vorschreiben« und weitere Meinungen. Ich bekam all das nur wie durch Ohrenstöpsel mit, nahm die Diskussionen wahr, ohne wirklich hinzuhören und stand zitternd und wie festgewachsen an meinem Platz, während das übliche Gedränge und Geschiebe in der Marktgasse wieder Fahrt aufnahm.
    Ich hatte den Schützen erkannt. Es war Daniel. Sein quietschgrünes Plastikgewehr war unzweifelhaft als Spielzeugwaffe zu erkennen gewesen. Das hatte er klug angestellt, so viel Respekt musste ich ihm zollen, auch wenn ich ihn im Moment am liebsten mit einem echten Gewehr abgeknallt hätte.
    Wie kam er dazu, meinen Arbeitgeber derart anzugreifen?
    Es gab andere Fleisch- und Fischstände auf dem Markt, die er als Ziel für seine Aktion hätte aussuchen können. Und wenn er schon gegen Siebendt vorgehen wollte, wäre das Fleisch aus Massentierhaltung ein lohnenderes Ziel gewesen. Allerdings wurde das hier auf dem Delikatessenmarkt weniger verkauft, in dieser Auslage lagen hauptsächlich Spezialitäten. Schade, dass gerade das Wildfleisch der Geschäftsbereich war, für den ich tätig war. Oder war das kein Zufall sondern Absicht?
    Wollte er meine Entlassung provozieren? Denn die würde kommen, sobald jemand die Verbindung zwischen diesem verrückt gewordenen Aktivisten und der PR-Managerin der Firma Siebendt herstellte.
    Ich hatte noch nie im Leben einen solchen Hass auf meinen Bruder empfunden.
    Die Kundin, die offenbar als Nächste an der Reihe gewesen war, stellte sich vor den Marktstand und verlangte von der Verkäuferin, »die Schweinerei« wegzuräumen und ihr endlich den vorbestellten Braten zu geben.
    »Dat würd isch lassen, Evi, dat jibt Ärger, hasse dat jehört?«, rief der Mann vom Geflügelstand gegenüber.
    Die Verkäuferin nickte immer noch wie betäubt. »Der Hubert hat recht. Ich darf hier nichts mehr verkaufen. Tut mir leid, aber ich muss den Stand schließen und erst mal sauber machen. Hygienevorschrift.«
    »Die Vorbestellung haben Sie doch bestimmt unten inder Kühlung, da kann doch nichts drangekommen sein«, wandte die Kundin ein.
    »Das Risiko kann ich nicht eingehen«, murmelte die Verkäuferin. »Nein, ich mache hier zu.«
    Sie drehte sich um und wählte mit zitternden Fingern eine Nummer auf ihrem Handy. Die Kundin schrie und zeterte, gab aber bald auf und stampfte wütend von dannen. Kurz darauf kam die Polizei und nahm desinteressiert die diversen Augenzeugenberichte entgegen.
    Die anderen Marktbeschicker und die Käufer wandten sich ihren eigenen Geschäften zu und bald lief der Betrieb an den umliegenden Ständen wie jeden Samstag um diese Zeit.
    Nur ich stand immer noch auf dem Markt und heulte vor Wut auf meinen Bruder.
    Ich war außer mir und wusste nicht, was ich tun sollte. Nach Hause gehen kam nicht in Frage. Was sollte ich dort? Zum Lesen war ich viel zu aufgewühlt und das einzig Sinnvolle, das mir immer wieder half, Wut abzubauen, war exzessives Fensterputzen. Das allerdings wollte ich liebend gern in einer neuen Wohnung machen, aber keinesfalls noch einmal in der alten.
    Ich brauchte Bewegung, sonst würde ich schreien und ziemlich lange nicht mehr damit aufhören. Also lenkte ich meine Schritte zum Rhein und die Promenade flussabwärts bis zur Tonhalle. Ich schlenderte nicht, sondern ging im Stechschritt, und das Marschieren baute ein wenig von dem Adrenalin und der Wut ab, die sich in mir angestaut hatten. Ich überquerte die Brücke nach Oberkassel und ging dort auf dem Rheindeich weiter flussab. Ich trug zwar meine bequemen Sneaker, aber für stundenlange Wanderungen waren sie nicht gemacht. Der linke Schuh drückte am kleinenZeh, doch das war mir egal. In einem Zustand völliger Leere im Kopf setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich ignorierte meinen knurrenden Magen, kaufte am Strandbad in Lörick eine Cola gegen den Durst und marschierte weiter flussab. Erst auf Höhe der neuen Autobahnbrücke, weit jenseits von Meerbusch, kam ich einigermaßen zur Besinnung. Ich war fast zwei Stunden sinn- und ziellos geradeaus gegangen und befand mich abseits jeglicher Zivilisation. Wenn man von dem Monster aus Beton und Stahl absah, über das der automobile Wahnsinn von rechts nach links und von links nach rechts raste.
    Ich hatte Hunger und Durst.
    Ich blickte zurück und konnte kaum glauben, wie weit ich gegangen war. Den ganzen Weg wieder retour zu latschen, kam mir unmöglich vor. Das Adrenalin und damit der Bewegungsdrang hatten nachgelassen, ab jetzt war jeder Schritt zu viel. Ich konnte nach

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