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Möhrchenprinz - Roman

Möhrchenprinz - Roman

Titel: Möhrchenprinz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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meinem Vater, sondern von Daniel. Und ich regte mich wirklich auf. Aber der Reihe nach.
    Die Siebendt GmbH hat einen Stand auf dem Carlsplatz in der Düsseldorfer Innenstadt. Der seit Jahrhunderten an Ort und Stelle bestehende Markt ist ein einziges Delikatessenparadies, dessen Preise man sich leisten können muss. Dafür bekommt man dort Käsespezialitäten, die sonst nur in ihrer Ursprungsregion erhältlich sind, es gibt die exotischsten Früchte, den besten Spargel und so weiter und so fort. Obst und Gemüse, Fisch, Fleisch, Öle, frischen Backfisch und andere Mahlzeiten und sogar Töpfe und Pfannen kann man an sechs Tagen in der Woche dort kaufen. Und es gibt einen Stand der Firma Siebendt GmbH aus der Zeit, als Siebendt noch als Groß- und Einzelhändler tätig war. Dieser Stand ist heute der einzige verbliebene Direktverkauf an Endverbraucher. Er wird nicht nur aus sentimentalen Gründen erhalten, sondern dient außerdem der Meinungsforschung. Nur hier hat das Unternehmen die Möglichkeit, mit den Endverbrauchern zu kommunizieren, deren Vorlieben und Abneigungen ungefiltert und unverblümt in Erfahrung zu bringen und neue Produkte auf ihre Akzeptanz zu testen.
    An diesem Marktstand spielte sich an einem strahlend schönen Samstag im Mai die nächste Aktion meines Bruders und seiner Demo-Kumpel ab.
    Um elf Uhr, zur besten Marktzeit, sollte ich zum Carlsplatz kommen, hatte Daniel mir gesagt. Es werde interessant. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht einmal im Entferntesten die Verbindung zwischen dem Carlsplatz und dem Stand der Siebendt GmbH hergestellt. Ich stand also am Rand des Platzes, auf dem fast einhundert Stände zahlreiche Kunden lockten. Plötzlich entstand in einer der hinteren Reihen Unruhe.
    Wo Unruhe war, konnte Daniel nicht weit sein, dachte ich, und ich hatte mich nicht getäuscht. Allerdings erkannte ich ihn zunächst nicht.
    Im Gang der Fleischverkäufer trippelte eine zitternde Antilope unruhig hin und her und tat so, als wäre sie auf der Flucht vor etwas. Okay, es war ein mit Fellkostüm verkleideter Mensch, auf dessen Kopf ein echter Antilopenkopf saß, ausgestopft und von Motten zerfressen, aber unverkennbar. Die Antilope wurde verfolgt von einem Mann, der eine Safari-Montur trug, ein Tuch um Mund und Nase gebunden hatte und mit einem Gewehr auf die Antilope zielte. Die Antilope suchte Schutz hinter einem Marktstand, dann hinter zwei Frauen, die Arm in Arm durch die Gasse schlenderten. Genau vor dem Stand der »Fleisch-Spezialitäten Siebendt« blieb die Antilope stehen und drängelte sich zwischen die Kunden, die ihre Wochenendeinkäufe tätigten. Dann gab es einen Knall, die Antilope fiel um und der Jäger brüllte: »Getroffen!« Er ging zu dem reglosen Tier, griff unter das Fell und holte ein großes Stück blutigen Fleischs hervor. Darauf klebte er das Logo der Siebendt GmbH und klatschte es auf den Tresen des Verkaufsstandes.
    Das Publikum, das bei dem Schuss bereits erschrockenund gebannt auf das Schauspiel gestarrt hatte, wich angewidert zurück, eine der Kundinnen kreischte hysterisch und floh in großen Sprüngen. Dafür tauchten in dem nun gebildeten Halbkreis mehr Aktivisten in Tierkostümen auf. Auch sie wurden der Reihe nach »erschossen«, jedes Mal holte der Jäger Fleisch oder Schlachtabfälle aus der Verkleidung des Tieres hervor und schmiss sie auf den Tresen, dass das Blut in alle Richtungen spritzte.
    Nachdem auch das fünfte Tier auf diese Art getötet und zum Verkauf angeboten worden war, sprangen alle Tierdarsteller auf und verschwanden mitsamt ihrem Mörder im Laufschritt vom Markt. Niemand hielt sie zurück.
    Auf der Theke des Marktstands blieben vier große, bluttropfende Stücke Fleisch und ein stinkendes Fell zurück. Der Fleischsaft rann hinter der Vitrine in die Auslage und lief vorn am Glas entlang. Neben dem Stand heulten drei Kinder lautstark. Ihre Mutter tröstete sie mit dem Hinweis auf die Tatsache, dass alle Tiere noch lebten, denn sie waren ja zusammen weggerannt, aber die Kleinen ließen sich nicht beruhigen.
    Die Verkäuferin stand wie gelähmt hinter dem Verkaufstresen und beobachtete, wie die ersten Fliegen sich auf das verdorbene Fleisch setzten. Im selben Moment erholten sich die umstehenden Zuschauer und begannen ein lautstarkes Palaver über die »widerliche Aktion«, »den längst fälligen Konflikt zwischen Tierschutzgesetz und massenhaftem Fleischkonsum«, die »Idioten, die glaubten, sie müssten anderen Leuten ihre Ernährung

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