Mörder im Chat - Ostsee-Krimi : (Aus Rostock)
über Brecht zum Theaterklub. So, und nun zu Lateinamerika. Nach dem Militärputsch in Chile – Sie hatten noch Eierschalen hinter den Ohren – kamen viele Emigranten in die DDR, auch nach Rostock. Am Volkstheater wurde das Teatro Lautaro gegründet, von einem Carlos Medina, ich weiß es ganz genau. Und dann war da noch ein Schriftsteller, der hieß Omar Saavedra Santis. Von ihm wurde am VTR das Stück Szenen wider die Nacht aufgeführt, ’76, ’77, ’78, ich weiß nicht genau. Es gab jedenfalls eine Diskussion, an der auch der Theaterklub teilnahm. Von da an war ich fasziniert von lateinamerikanischer Literatur.« Barbara schmunzelte. »Ich glaube, es hatte viel mit dem Aussehen dieses Medina zu tun, mit pubertärer Schwärmerei. Kurz und gut, von meinem Taschengeld kaufte ich alles, was in der Universitätsbuchhandlung zu kriegen war: García Márquez, Vargas Llosa, Fuentes, Asturias … Gott, wenn ich daran denke, wie ich versucht habe, dessen Roman Maismänner zu lesen! Ich habe kein Wort verstanden. Ich war nicht reif für den Magischen Realismus. Bin ich wahrscheinlich bis heute nicht.«
»Hochinteressant.« Uplegger spielte mit seinem Smartphone.
»Danke für die Teilnahme, Ihre Empathie ist geradezu bodenlos. Haben Sie eben auch ein Steckenpferd geritten?«
Er wiegte den Kopf. »Steckenpferd wäre übertrieben. Wenn ich mit meinen Eltern in der S-Bahn nach Warnemünde gefahren bin, haben sie immer mal wieder darauf hingewiesen, dass die Bahnstrecke früher einen anderen Verlauf hatte, nämlich näher am Dorf Schmarl. Und da ich noch nie in Schmarl war …«
»Sie waren noch nie hier?«
»Nein.«
»Sie haben über 40 Jahre gelebt, ohne Schmarl zu sehen?«
»Na ja, von der S-Bahn aus oder von der Straße habe ich’s schon gesehen. Wenn wir zum Traditionsschiff wollten, oder später, als ich mir mal das Millionengrab IGA angeschaut habe. Aber so richtig drin war ich noch nie.«
»Und?«
Uplegger zuckte mit den Schultern.
»Sieht aus wie sanierte Platte überall. Jedenfalls wollte ich gucken, ob es vielleicht eine Karte mit dem alten Streckenverlauf im Internet gibt. Gefunden habe ich nichts. Aber das alte Bahnhofsgebäude steht noch.«
»Nee!« Barbara stampfte auf wie ein zu breit geratenes Rumpelstilzchen. »Sie sind ja fähig, mir sogar nicht gestellte Fragen zu beantworten. An dieses Gebäude habe ich nämlich vorhin gedacht. Ist es ein Jugendklub?«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist der Haltepunkt Dau wat am Schmarler Bach 3, ein integratives Kommunikations- und Beteiligungszentrum der Gewerkschaft ver.di , das auch für die wohnbereichsnahe Personen- und Zielgruppenarbeit sowie zur Mitgliederbetreuung dient.«
»Wohnbereichsnahe Personen- und Zielgruppenarbeit ist immer gut«, meinte Barbara, während sie zum Wagen gingen. »Da haben wir ja einen enormen Ermittlungserfolg erzielt, was?«
»Ja. Ich könnte schon den Abschlussbericht schreiben – über zielgenaue Personenarbeit und über Ihre Erinnerungen an die Schulzeit.«
Diesmal behielt er das letzte Wort.
***
Geschäftsführung und Verwaltung der WBG Waterkant hatten ihren Sitz tatsächlich nicht weit von der neuen Bundespolizeiinspektion, in einem Neubau mit unverputzter Betonfassade. Dank Upleggers Kenntnissen von Kunst und Design wusste Barbara, dass man das Beton- oder allgemeiner auch Materialsichtigkeit nannte. Der anhaltende Regen hatte auf dem grauen Material noch grauere Flecken hinterlassen, sodass dieses vor vier, fünf Jahren errichtete Bauwerk bereits schäbig aussah. Der Eingangsbereich war eine Art Wintergarten aus Glas und Chromstahl, über ihm war der Schriftzug WGB Waterkant e. G. angebracht.
»Wissen Sie noch, welche Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft das mal gewesen ist?«, fragte sie Uplegger.
»AWG Baltic.«
»Den Namen hätte man doch lassen können …«
Die beiden Kriminalisten waren mit dem Personalchef und der Vorgesetzten von Lena Schultz verabredet, Herr Steinmann und Frau Koplow, ihres Zeichens Bereichsleiterin Technik/Modernisierung/Reparaturen. Empfangen wurden sie im Büro des Personalleiters, in dem der auch im Inneren vorherrschende nackte Beton tapeziert worden war, und zwar mit klassischer Raufaser. Das war ganz bestimmt nicht im Sinne des Architekten.
An den Wänden hingen etliche Farbfotografien von Segelschiffen, aufgenommen während der Hanse Sail ; wahrscheinlich hatte Steinmann sie fotografiert und dann vergrößern und rahmen lassen. Ansonsten sah das Büro wie viele der Welt aus,
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