Mörder im Chat - Ostsee-Krimi : (Aus Rostock)
Zeit mal erkundigt, was aus Annalena geworden ist, und da sagte sie, dass sie es nicht wisse. Annalena wollte Tierärztin werden, und, soweit ich weiß, hat sie wohl auch mit dem Studium angefangen, an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Beziehungsweise sie hatte dort einen Studienplatz. Das ist mein letzter Stand.«
»Ich würde gern näher auf das Leben Ihrer Tochter eingehen.« Dieser Hundeblick war ein Alptraum! »Sie hat am Ostseegymnasium das Abitur gemacht … mit welchem Durchschnitt?«
»2,9.«
»Warum hat sie nicht studiert?«
»Das ist ein bisschen ein wunder Punkt«, meinte der Vater. »Sie wusste einfach nicht, was sie studieren soll. Eigentlich hatte sie keine genauen Vorstellungen von einem zukünftigen Beruf. Wir haben uns große Sorgen gemacht …«
»Du«, fiel ihm seine Frau ins Wort. »Du hast dir Sorgen gemacht.«
Er nickte. »Ja, das stimmt. Meine Frau war der Ansicht, dass es bei manchen Kindern eben erst später käme. Das Interesse für bestimmte Berufe, meine ich. Und andere wissen schon in der Vorschule, was sie werden wollen.«
»Welche Interessen hat Lena denn im Allgemeinen?«, wollte Barbara wissen. »Sie hat doch Hobbys?«
»Ja, lesen. Lesen auf jeden Fall.«
Barbara tauschte einen Blick mit ihrem Kollegen und machte sich Notizen. In der Wohnung hatte es nur wenige Bücher gegeben, in der kleinen Schlafzimmerbibliothek, und sie würde nachher Pentzien anrufen und nach den Titeln fragen.
Uplegger sprang ein: »Kann man sie eine Leseratte nennen?«
Die Mutter sagte: »Wenn ich sie gefragt habe, was sie denn so macht, hat sie oft gesagt: ›Weißt du doch, ich lese viel.‹ Und dann hat sie gern über die Bücher erzählt, die sie gerade beim Wickel hatte.«
»Können Sie ein paar Titel nennen?«
»Ist das denn wichtig?« Die Eheleute bedachten Uplegger mit einem halb zweifelnden und einem halb verzweifelten Blick.
»Bitte!«
»Ja, was war das noch?« Frau Schultz strich sich über die Stirn. »Es war so viel. Ich glaube, als Letztes hat sie den Steppenwolf gelesen …«
»Und lateinamerikanische Literatur?«, erkundigte sich Barbara.
Frau Schultz lächelte kurz. »Sie denken an meinen Beruf, ja? Weil ich bis zum bitteren Ende die Bibliothek der Sektion Lateinamerikawissenschaften betreut habe? Die man dann in einer Baracke am Laakkanal verschimmeln ließ? Wir hatten 1989 über 43000 Bände, Bücher und Zeitschriften, und dann noch unseren Dokumentationsdienst Lateinamerika … Wissen Sie, in welchem Zustand man die Ordner schließlich geborgen hat? Es war katastrophal. Und sämtliche Diplomarbeiten sind verschollen, bis auf zwei! Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke.« Sie schüttelte sich. »Ich selbst bin aber keine Lateinamerikanistin, sondern ich habe in Leipzig Bibliothekswissenschaften studiert. Deshalb hat mich die Uni ja auch übernommen. Und als dann alles, was aus dieser elenden Baracke gerettet werden konnte, von der Universitätsbibliothek übernommen wurde, kam das natürlich in meinen Bereich. Es war traurig zu sehen, zu welcher Art von kulturellem Raubbau demokratisch gewählte Politiker fähig sind. Wir … oh, entschuldigen Sie, aber bei diesem Thema … Sogar der Bundespräsident von Weizsäcker hat sich damals gegen die Abwicklung des Rostocker Lateinamerika-Instituts ausgesprochen. Aber es war eine Zeit, da herrschte in Schwerin das Banausentum.«
»Uns was herrscht dort heute?«, fragte Barbara sofort.
»Heute? Die Barbarei.« Ein zweites kleines Lächeln flog über das Gesicht der Mutter, die dann aber sehr ernst fortfuhr: »Ich konnte Lena für Spanisch und für Lateinamerika interessieren, aber nicht für die Literatur. Sie wird das eine oder andere gelesen haben, aber wir haben nie darüber gesprochen.«
»Und Ihre ältere Tochter? Konnten sie die für Gabriel García Márquez oder Vargas Llosa oder Octavio Paz oder wen auch immer begeistern?«
»Also jetzt …« Herr Schultz schüttelte die Hand seiner Frau ab und stampfte auf den Boden. »Ich verstehe nicht im Geringsten, was das alles mit Lenas angeblichem Verschwinden zu tun hat. Und mit dem Blut.« Er sprang auf. »Ich meine, Sie sitzen hier und stellen sinnlose Fragen. Suchen Sie Menschen, die vermisst gemeldet werden, nicht? Trinken Sie nur den Kaffee besorgter Eltern?«
Barbara schluckte, weil sie sich persönlich angegriffen fühlte, aber sie sagte nichts und schaute lieber dem Hund in die feuchten Hundeaugen. Uplegger übernahm den Part des
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