Mörder im Chat - Ostsee-Krimi : (Aus Rostock)
Barbara auch von ihrem Bruno. Sie schaute auf die Uhr: Bald war es Zeit für die Insulinspritze, also sollten sie sich sputen.
Uta Schultz stand vor den großen Fenstern des Wintergartens und schaute in den Garten. Als sie die Schritte hörte, drehte sie sich langsam um.
»Dieser ewige Regen«, sagte sie, »muss man nicht fürchten, dass eine Katastrophe biblischen Ausmaßes auf uns zukommt?«
»Eigenartig, an die Sintflut habe ich auch gerade gedacht«, erwiderte Barbara.
Frau Schultz nickte und setzte sich. »Interessanterweise ist die Sintflut gar keine biblische Erfindung. Es gab die Vorstellung schon bei den Sumerern, wie man im Gilgamesch-Epos nachlesen kann, und es gibt sie zum Beispiel auch in Altamerika. Die Bücherverbrennung durch den Bischof de Landa haben nur drei oder vier Maya-Codizes überstanden – der vierte, der Codex Grolier, war lange umstritten, nun wird er wohl als authentisch anerkannt. Zu DDR-Zeiten, als es die Sektion Lateinamerikanistik noch gab, ging man noch von drei originalen Codizes aus. Und von einem, dem Codex Dresdensis, hatte wir zwei Faksimiles.«
Sie geriet ins Schwärmen, ihre Augen strahlten, ja ihr ganzes Gesicht. Obwohl sie abschweifte, mochte Barbara sie jetzt nicht unterbrechen und in die nasskalte und blutige Realität zurückholen. »Ich erzähle das, weil es da auch eine von den Göttern gesandte, alles zerstörende Flut gibt. Es ist die größte Darstellung im Codex, also war das ein wichtiges Ereignis in der Mythologie.« Das Leuchten wich einem Ausdruck von Melancholie. »Ja, ja, zwei Faksimile-Ausgaben hatten wir. Der Codex Dresdensis wird, der Name sagt es schon, seit Siebzehnhundertnochetwas in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden aufbewahrt, und so war es logisch, dass der Akademie-Verlag in Ost-Berlin Anfang der 60-er Jahre eine Ausgabe machte – als wissenschaftliche Gabe der DDR für den 35. Amerikanistenkongress 1962 in Mexiko. Und dann hatten wir noch eine Westausgabe von der Akademischen Verlagsanstalt Graz. Von Mitte der 70-er, denke ich.«
»Ich nehme an, so ein Faksimile ist teuer«, sagte Uplegger mit ehrlichem Interesse. »Und Sie mussten sicher Devisen aufbringen …«
»Ich glaube, die Grazer Ausgabe hat über 1000 D-Mark gekostet. Wir mussten sie aber nicht bezahlen.« Ein kurzes verschmitztes Aufblitzen in ihren Augen. »Einer unserer besten Wissenschaftler hatte sehr gute Beziehungen zu Westforschern. Da war ein Kollege vom Hamburger Institut für Iberoamerika-Kunde und auch jemand aus Wien; vom ÖLAI, dem Österreichischen Lateinamerika-Institut. Wenn Sie aus dem Osten kommen, wissen Sie vielleicht, wie das lief: Man traf sich in Prag oder Budapest zum Essen, und die Westler haben dann die geschmuggelten Bücher unter dem Tisch überreicht. Oder so ähnlich. Das ging mehrmals gut, aber dann ist das dem Dr. Laube mächtig auf die Füße gefallen. Er war sowieso schon angeeckt, weil er sich vor Studenten für Perestroika und Reisefreiheit eingesetzt hatte. Bei der Einreise von der ČSSR in die DDR wurde er am Grenzübergang Děčín gefilzt, und man fand ein Buch. Nur eins, ein kleines, ebenfalls von dem Grazer Verlag. Aber das reichte für einen Riesenaufriss.« Sie atmete tief ein und aus und schüttelte den Kopf. »Die Sektionsleitung und sogar die Staatssicherheit haben ihm die Hölle heißgemacht. Und mit der Karriere war es natürlich vorbei.«
»Sag mal«, mischte sich ihr Mann ein, »der Sohn von diesem Laube, war der nicht auch am OG?«
»Natürlich! Jetzt, wo ich von unseren Schmuggelbüchern erzähle, fällt es mir wieder ein. Uwe hieß der Junge. Heißt er natürlich noch. Uwe Laube. Aber der war zwei oder drei Klassen über Lena.«
Uplegger notierte sich den Namen, da man im Moment Namen sammelte. Nach seiner Erinnerung an die Schulzeit kam es nur selten vor, dass Schüler höherer Klassen sich um die jüngeren kümmerten, da man sie als Kinder ansah, als unreif, als wenig geeignete Gesprächspartner. In Arbeitsgemeinschaften und anderen, von gleichem oder ähnlichem Interesse getragenen Korporationen konnte es anders sein, also sagte er: »Ich hatte Sie vorhin nach der Gruppe fragen wollen, mit der Lena in Guatemala war. In …« Er warf einen Blick zur Dampframme , die aber den Kopf schüttelte.
»In Santa María Chiquimula«, half der Vater aus. Ein winziges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Ich hab auch länger gebraucht, bis ich das aussprechen konnte.«
»Chiquimula ist übrigens aus chiquito mula
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