Mörderische Tage
wesentlich moderner eingerichtet, vor allem hat jede von ihnen ein Fenster. Wenn es eine Zelle ist, dann muss es in diesem Bau noch mehrere davon geben. Oder hat er nur eine einzige Zelle in einem geheimen Verlies innerhalb eines Hauses, zu dem nur er allein Zutritt hat? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Es muss mehr Zellen hier geben, vielleicht sogar einen ganzen Zellentrakt. Sie versuchte, die Größe der Zelle zu bestimmen, und schätzte sie auf etwa drei Meter auf eins fünfzig bis eins siebzig, die Höhe lag schätzungsweise bei zwei fünfzig. Sie sah den Tisch mit dem Block darauf, den seitlich davon stehenden Stuhl, die Toilette rechts von ihr. Sonst gab es nichts außer der Liege.
Sie kniff die Augen zusammen und suchte die Wände und die Decke nach Kameras und Mikrofonen ab und entdeckte schließlich ein winziges Objektiv über der Tür und nach weiterem Suchen noch eins rechts von ihr in der Ecke. Sie sah lange hin und hoffte, ihr Entführer würde sie sehen. Vielleicht beobachtest du voyeuristisches Arschloch mich schon die ganze Zeit, dachte sie, ohne ihr Gesicht zu verziehen. Er sollte merken, dass sie die Kameras entdeckt hatte, aber er sollte nichts von ihren Gefühlen mitbekommen. Sie reckte die Arme hoch und hielt sie in Richtung der Kamera über der Tür, um zu signalisieren, dass er sie losbinden solle.
Sie hörte keine Geräusche, was ihr erst jetzt auffiel. Es herrschte eine absolute, nie gekannte Stille, niemand, der weinte oder jammerte, kein Kratzen, kein Klopfen, nichts. Als wäre sie doch allein.
Bock und Andrea hatten wohl recht, er versucht es mit Isolationshaft. Vermutlich wird er irgendwann das Licht ausschalten, um mich allmählich in den Wahnsinn zu treiben, wie Jacqueline Schweigert. Aber das wird ihm nicht gelingen, nicht mit mir.
Mit einem Mal drückte sich die Angst erneut wie eine überdimensionale kalte Faust in ihren Leib, sie dachte daran, womöglich so zu enden wie Detlef Weiß und Corinna Peters. Sie hatte Angst davor, gequält zu werden, über Tage, vielleicht Wochen, bis er sie endlich von ihren Qualen erlösen würde. Sie wollte noch nicht sterben. Und doch war sie in der Gewalt eines Soziopathen, der keine Skrupel kannte und für den Mord kaum mehr als ein Spiel war.
Sie schloss die Augen und betete, was sie seit Jahren nicht getan hatte. Und das, obwohl ihr Vater Pfarrer war, obwohl sie in einem christlichen Umfeld aufgewachsen war, mit einem Gebet vor jeder Mahlzeit und vor dem Zubettgehen, und bis zu ihrem Auszug hatte sie jeden Sonntag die Kirche besucht. Irgendwann hatte sie das Leben erst in München und dann in Frankfurt die sicheren Rituale ihrer Kindheit vergessen lassen. Der Kampf gegen das Verbrechen, der Sog der Gewalt, in den sie immer tiefer hineingezogen wurde, obwohl sie ihn bekämpfte, das Leiden so vieler Menschen zu erleben, Verwandter, Bekannter, Kinder, Ehepartner, Freunde, all dies hatte sie von ihren Wurzeln weggeführt zu einem anderen Leben. Und obwohl ihr Vater sie gewarnt hatte, wollte sie nicht auf ihn hören. Er hatte gesagt, dass sie eines Tages von diesem Beruf aufgefressen würde, und nun war sie womöglich am Endpunkt ihres Lebens angelangt, in der Hand eines Wahnsinnigen. Dreiundvierzig Jahre alt und dem Tod ins Angesicht blicken, nein, so hatte sie sich ihr Leben wahrlich nicht vorgestellt. Sie wollte leben, sie hatte noch so viel vor, auch wenn sie häufig mit dem Schicksal haderte, das ihr eine glückliche Beziehung verwehrte, das sie in Ritualen leben ließ, aus denen sie nicht allein herausfand; dennoch liebte sie dieses Leben, das für sie in diesem Augenblick der vollkommenen Isolation so unglaublich wertvoll wurde, wertvoller als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt ihres Lebens. Und deshalb würde sie kämpfen.
Nein, sie hatte eine Ewigkeit nicht mehr gebetet, auch wenn sie oft mit ihrem Vater telefonierte und mit ihm über Gott und die Welt philosophierte. Sie konnte ihn anrufen, wann immer sie wollte, und wenn es mitten in der Nacht war, stets hatte er ein Ohr für sie. Und wenn ihr in Frankfurt die Decke auf den Kopf fiel, dann setzte sie sich einfach ins Auto und fuhr zu ihm, um ein verlängertes Wochenende mit ihm zu verbringen. Ihr Vater war der einzige Mensch, zu dem sie bedingungsloses Vertrauen hatte. Und er hatte bedingungsloses Vertrauen zu Gott.
Ihr fiel das Gedicht >Spuren im Sand< ein, das er ihr in einer schwierigen beruflichen und privaten Phase erst am Telefon vorgelesen und anschließend geschickt
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