Mörderische Tage
hatte. Sie hatte es viele Male gelesen und war jedes Mal tief gerührt über die Worte. Sie kannte es fast auswendig und sagte es nun in Gedanken auf.
Doch die Angst wich nicht. Sie wollte ihren Entführer und möglichen Peiniger sehen, sie wollte mit ihm sprechen, um herauszufinden, was ihr bevorstand.
Sie zuckte zusammen, als plötzlich ein Schlüssel ins Schloss gesteckt und umgedreht wurde. Die Tür ging mit einem Ruck auf, ein großgewachsener, schlanker Mann mit schwarzem Vollbart und einer dunklen Brille trat in den Raum und blieb stehen, ohne ein Wort zu sagen. Julia Durant spürte nur, wie seine Augen ihren Körper abtasteten. Auch sie sagte keinen Ton, sie versuchte lediglich zu ergründen, wie er ohne diesen künstlichen Bart und die Brille aussehen mochte, denn sie merkte sofort, dass alles nur Tarnung war. Seine Kleidung war die eines Mannes von der Straße, Jeans, ein sommerlicher Sweater und darüber eine schwarze Lederjacke.
Nach schier endlosem Schweigen sagte er mit monotoner Stimme: »Ausgeschlafen, Frau Kommissarin?«
»Nein. Muss das mit den Fesseln sein? Ich nehme an, hier ist alles so gesichert, dass eine Flucht unmöglich ist. Warum also dieser zusätzliche Aufwand?«
»Das ist nur am Anfang.« Er trat näher, zog ein Messer aus seiner Jacke und schnitt die Fesseln durch.
Was meint er mit Anfang? Nein, ich darf ihn nicht fragen,
diese Genugtuung will ich ihm nicht verschaffen.
Julia Durant rieb sich erst die Hand-, dann die Fußgelenke
und sagte:
»Warum bin ich nackt? Geilt Sie das auf?«
»Nein, das mache ich mit allen. Außerdem stehe ich auf jüngere Frauen.«
»Sind Sie verheiratet?«
»Tz, tz, tz, sind wir hier in einem Verhör? Ich glaube, du solltest dir erst über deine Situation im Klaren sein, bevor du unnötige Fragen stellst. Aber du darfst raten, denn das dürfte für jemanden wie dich nicht ungewöhnlich sein, da vieles in deinem Beruf mit Raten zu tun hat. Was glaubst du denn?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Durant, obwohl sie fast sicher war, dass er verheiratet war, ohne begründen zu können, woher sie diese Sicherheit nahm.
»Warum sagst du das, obwohl du etwas anderes denkst? Dir ist doch bekannt, dass die meisten Serienmörder ein unauffälliges Privatleben führen, verheiratet sind, Kinder haben und von den Nachbarn geschätzt werden. So jemand bin ich auch, richtig nett. Aber ich bin nicht hier, um die Hosen vor dir runterzulassen, es geht schließlich um dich. Du wirst weitere Fragen haben, also frag«, sagte er kühl. »Und keine Tricks, ich bin stärker, das kannst du mir glauben.«
»Warum bin ich hier?«
»Weil ich es so bestimmt habe.«
»Das glaube ich Ihnen nur zum Teil. Sie haben mehrere Morde begangen und sich …«
»Stopp«, unterbrach er sie abrupt, »ich habe gesagt, du darfst Fragen stellen und nicht analysieren.«
»Entschuldigung. Haben Sie vor, mich zu töten?«
»Das hängt ganz von dir ab.«
»Inwiefern?«
»Ob du tust, was ich von dir verlange.«
»Und was verlangen Sie von mir?«
»Das erfährst du noch rechtzeitig. Siehst du den Block auf dem Tisch? Du wirst alles aufschreiben, was dir zu deinem Leben einfällt, selbst wenn es dir noch so unwichtig erscheint. Von deiner frühesten Kindheit bis jetzt. Du schreibst von Gefühlen, Liebe, Hass, Trauer, Schmerz, Freude, eben von all dem, was ein Leben ausmacht. Vor allem aber schreibst du von Gott und dem Teufel. Dein Vater ist Pfarrer, also dürfte dir das nicht allzu schwer fallen. Gott, Teufel, Gut und Böse, das will ich lesen. Ich will lesen, wie eine Hauptkommissarin dazu steht.«
»Warum?«
»Weil ich es so will. Denk daran, dein Leben liegt in meiner Hand. Du wirst Hunger und Durst haben, ich habe dir drei Flaschen Wasser und zwei Flaschen Cola sowie ein paar belegte Brote und Bananen mitgebracht. Ich hoffe, das ist in deinem Interesse. Glaub mir, du bist die einzige Gefangene und wirst es auch bleiben, die eine derartige Vorzugsbehandlung genießt, die anderen bekommen nur Brot und Wasser.«
»Und wie komme ich dazu?«
»Weil du eine privilegierte Person bist. Und frag nicht, warum, nimm es einfach als Kompliment. Ich habe große Hochachtung vor dir und dem, was du bei der Polizei geleistet hast. Das ist die Wahrheit.«
»Und dann halten Sie mich als Ihre Gefangene?«
»Ja, denn du wirst mein Meisterstück werden, so viel kann ich dir jetzt schon verraten. Mehr aber auch nicht, und ich möchte dich bitten, vorläufig von weiteren diesbezüglichen Fragen
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