Mörderische Tage
will, okay, dann bekommt er ihn, schließlich geht es ums Überleben. Und bereits nach relativ kurzer Zeit entwickeln die Opfer so etwas wie das Stockholm-Syndrom, das heißt, sie fangen an, mit ihrem Peiniger zu sympathisieren, denn er erzählt ihnen von all dem Leid, das ihm seit seiner Geburt widerfahren ist, von all dem Leid, das die Menschen auf dieser Welt hinnehmen müssen, und von der Ungerechtigkeit dieser Welt, und die Opfer haben Mitleid mit ihm, obwohl sie seine Gefangenen sind. Sie fühlen sich ab einem gewissen Moment nicht mehr so sehr als Opfer, sondern wechseln emotional die Seite. Er jedoch betrachtet das alles als Spiel, er genießt dieses Spiel, das nur einen Gewinner haben kann, und irgendwann schlägt er mit aller Wucht zu. Doch vorher macht er ihnen mit ziemlicher Sicherheit Versprechungen, dass er sie wieder freilässt …«
»Dann müsste er aber die ganze Zeit über eine Maske tragen und seine Stimme verstellen«, warf Berger ein.
»Warum nicht? Vermutlich tut er es sogar, um die Opfer in Sicherheit zu wiegen, was zu seinem perfiden Spiel gehört. Es gibt nichts Schlimmeres als Hoffnung, die am Ende doch zerplatzt.
Aber um Ihnen ein differenzierteres Täterprofil vorlegen zu können, brauche ich noch zwei, drei Tage. Ein richtiges Opferprofil, davon bin ich schon jetzt überzeugt, gibt es nicht. Seine Opfer kommen aus allen Schichten, sind unterschiedlichen Alters, sehen unterschiedlich aus, haben eine unterschiedliche Bildung genossen.«
Er machte eine Pause und trank einen Schluck Wasser, um gleich darauf fortzufahren: »Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein paar Eigenschaften an die Tafel schreiben, die ich dem Täter zuordne.
Kontrolle
Macht
Emotionale Kälte
Analytiker
Narziss
Egomane
Unfähig, Freude zu empfinden
Überdurchschnittlich intelligent
Charmant
Eloquent
Freundlich
Höflich
Hilfsbereit
Einnehmendes Wesen
Verheiratet
Angesehen in der Gesellschaft
Dennoch Einzelgänger
Introvertiert, obwohl extrovertiertes Auftreten
Spieler
Verfügt über Geld
Das sind die wesentlichen Merkmale, die ich in der vergangenen Nacht isoliert habe. Gehen wir Punkt für Punkt durch.
Kontrolle: Er will unter allen Umständen zu jeder Zeit die Kontrolle behalten, allerdings nur, wenn er sich seinem morbiden Tun hingibt. Kontrollverlust käme einer Niederlage gleich. Daher können wir davon ausgehen, dass er sehr körperbewusst ist, sportlich, keine Drogen konsumiert, also auch keinen Alkohol, keine Zigaretten und so weiter. Ein solcher Mensch legt auch großen Wert auf Körperhygiene.
Macht: Im täglichen Leben eher einer unter vielen, beim Ausüben seiner Taten lässt er seiner Phantasie freien Lauf und übt ähnlich einem absolutistischen Herrscher Macht aus.
Emotionale Kälte: Bedeutet nichts anderes als die Unfähigkeit, Gefühle zu empfinden. Er kann Gefühle zeigen, doch das ist nur antrainiert und kommt nicht aus seinem Innern. Aber gerade, weil es antrainiert ist, ist es so schwer zu durchschauen. Er lebt emotional in einer völlig anderen Welt, kann aber zwischen den beiden Welten sehr schnell hin und her schalten. Dennoch ist es wichtig zu wissen, dass er weder Liebe noch Hass noch Trauer oder irgendein anderes uns bekanntes Gefühl in sich trägt. Und das macht ihn so extrem gefährlich und auch unberechenbar.
Analytiker: Kann sich sehr gut in andere Personen hineinversetzen und sogar Gedankengänge nicht nur nachvollziehen, sondern sie auch im Voraus berechnen – eine seiner stärksten Waffen und mit ein Grund, weshalb er noch auf freiem Fuß ist.
Narziss: Ich denke, dieser Begriff bedarf keiner Erklärung.
Egomane: Überspringen wir ebenfalls, gehört zum Narziss.
Unfähig, Freude zu empfinden: Gehört in den Bereich emotionale Kälte. Wer keine Freude empfinden kann, kann auch keine Trauer oder Schmerz empfinden.
Überdurchschnittlich intelligent: Das muss er sein, sonst wäre er nicht in der Lage, solche, wie einer meiner Lehrmeister in den USA sagte, >sophisticated murders< zu begehen. Damit sind extrem gut durchdachte und raffiniert ausgeführte Morde gemeint. Möglicherweise wurde seine Intelligenz nie entsprechend gefördert, damit sie in die richtigen Bahnen gelenkt werden konnte. Ich schätze ihn als jemanden ein, der häufig sich selbst überlassen wurde.
Charmant, eloquent, freundlich, höflich, hilfsbereit, einnehmendes Wesen: Diese Punkte gehören zusammen. Er weckt bei seinen Opfern keinen Argwohn, ganz im Gegenteil, sie fühlen sich zu ihm
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