Mörderische Tage
ausgelöst habe, da Koch weder geraucht noch getrunken hat. Er war ein Abstinenzler vor dem Herrn, dem sein Körper heilig war. Und die anderen in unserer Abteilung wollten mit der ganzen Sache auch nichts mehr zu tun haben, wir vermieden es geradezu, den Namen dieses Typen in den Mund zu nehmen.«
Es klopfte an der Tür, ein älterer Mann aus dem Archiv trat ein und brachte einen dünnen Ordner: »Sie haben Glück, normalerweise wäre das Zeug schon längst im Schredder gelandet. Weiß auch nicht, warum das noch bei uns liegt.«
»Danke«, antwortete Berger nur, dann erst sah er genauer hin: »Soll das ein Witz sein? Der Vorgang Gernot ist mindestens hundertmal so dick. Das sind doch höchstens zwanzig Seiten!«
»Tut mir leid, das ist alles, was wir finden konnten.«
Berger schnaubte und wartete, bis der Mann das Besprechungszimmer verlassen hatte. Mit gerunzelter Stirn begann er die Seiten durchzublättern. »Dietmar Gernot, geboren am 24. Dezember 1936 in Liegnitz, Schlesien«, murmelte er vor sich hin.
»Aber der Weihnachtsmann war er nicht«, bemerkte Kullmer lakonisch.
Ohne darauf einzugehen, fuhr Berger fort: »Wir haben ihn im Juli 74 festgenommen, da war er siebenunddreißig. Verdammt noch mal, das müsste doch ein richtig fetter Ordner sein oder sogar mehrere Ordner. Ich versteh das nicht, das ist nur ein Bruchteil von dem, was wir damals angelegt hatten. Wo ist der Rest?« Es schien, als wäre für Berger die Vergangenheit mit einem Mal gegenwärtig und längst Vergessenes würde an die Oberfläche gespült. Sein erster großer Fall, bei dem er den altgedienten Hasen zur Hand gehen durfte. Damals noch grün hinter den Ohren, hatte er sich im Laufe der Jahre so weit nach oben gearbeitet, wie es einem Polizeibeamten möglich war. Hauptkommissar und seit nunmehr zwölf Jahren Kommissariatsleiter. Schwere Schicksalsschläge hatten sein Leben geprägt, doch als alle nicht mehr damit gerechnet hatten, wurde aus dem lange Zeit verschlossenen und dem Alkohol zugeneigten Berger wieder ein zufriedener und – wie es aussah – glücklicher Mann. Julia Durant hatte viel von ihm gelernt, sie respektierte ihn mehr als jeden anderen Kollegen. Er hatte sie zum K11 geholt, weil er von ihr überzeugt gewesen war. Er hatte ihr mit Anfang dreißig Aufgaben übertragen, die eigentlich andere hätten bekommen sollen, aber er vertraute ihr und ihrem Instinkt. Wenn sie jemandem beruflich etwas zu verdanken hatte, dann Berger. Und für dieses Vertrauen würde sie ihm ewig dankbar sein. Auch dafür, dass er ihr so oft freie Hand bei den Ermittlungen ließ und häufig nur verlangte, auf dem Laufenden gehalten zu werden. Die Chemie zwischen ihnen stimmte, und das war das Wichtigste.
»Hätten Sie diesen Typ für einen eiskalten Serienkiller gehalten?«, fragte Berger und deutete auf die drei Fotos, die Gernot zeigten.
»Wie sieht denn ein eiskalter Serienmörder aus?«, fragte Hellmer.
»Herr Hellmer, ich spreche von damals und nicht von jetzt. Zur Zeit seiner Verhaftung steckte die Kriminalpsychologie noch in den Kinderschuhen, so etwas wie Profiling gab es noch nicht, wir hätten allein mit dem Wort nichts anfangen können. Und glauben Sie mir, als ich Gernot zum ersten Mal zu Gesicht bekam, da hätte ich ihm alles zugetraut, aber nicht, dass er drei äußerst grausame Morde begangen hat. Er war schlicht und einfach zu nett und zu höflich. Aber er war eine Bestie, und seine Triebfeder war die Lust am Töten, davon waren wir am Ende alle überzeugt. Er kam aus einem guten Elternhaus, hatte sein Abi mit eins bestanden und schließlich studiert. Dazu hatte er eine sehr reiche Frau geheiratet und bekleidete einen exzellenten Posten bei der Oberfinanzdirektion. Er schien alles haben, aber er wollte töten. Doch warum«, Berger machte eine kurze Pause und schüttelte den Kopf, »dieses Geheimnis hat er mit ins Grab genommen. Sei's drum, die Sache liegt eine halbe Ewigkeit zurück.«
»Er sieht tatsächlich nicht wie ein brutaler Mörder aus«, sagte Doris Seidel, »im Gegenteil.«
»Es sind seine Augen«, entgegnete Julia Durant, nachdem sie ein Foto, das Gernots Gesicht direkt von vorne zeigte, eine ganze Weile ausgiebig betrachtet hatte. »Er hat kalte Augen. Sehr kalte Augen. Völlig emotionslos, fast leblos, wie tot.«
»Komisch, genau das hat eine Kollegin auch gesagt, aber nur siehat das gesehen. Gernot war ein Meister im Sichverstellen, ein Schauspieler erster Güte. Was der für eine Show abgezogen hat, dafür
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