Mörderischer Auftritt
junge Mann, mit dem Sie neulich Abend getanzt haben, Dusk?«, fragte Mary Alice, als wir an einer Ampel hielten.
»Er heißt Bobby Miller und studiert an der Alabama School of Fine Arts. Er ist wundervoll, nicht wahr? Und dabei ist er erst achtzehn Jahre alt.«
»Wundervoll.« Schwesterherz und ich stimmten ihr bei.
»Ich versuche ihn zu überreden, dass er nach New York kommt und das College sein lässt. Aber vermutlich will er nicht. Seinem Vater missfällt es, dass er Tänzer ist. Er hält ihn für ein Weichei.«
Ich dachte daran, mit welcher Leichtigkeit er Dusk hochgehobenhatte. Da war nichts von einem Weichei gewesen. Ich verspürte den altgewohnten Ärger, der alle Lehrer überkommt, wenn Eltern darauf bestehen, dass ihre talentierten Kinder dem Pfad folgen, von dem sie, die Eltern, beschlossen haben, dass er der richtige sei. Und zum millionsten Male wünschte ich mir, dass Kunst einen höheren Stellenwert hätte.
»Sie können mich einfach am Nebeneingang rauslassen«, sagte Dusk und zeigte auf eine Tür an der Seite des Alabama Theatre. Sie verschwand nahezu hinter der verschnörkelten Muscheldekoration, die das Gebäude außen wie innen zierte.
»Wir warten, ob jemand da ist«, sagte Mary Alice.
»Waren Sie je hinter der Bühne?«, fragte Dusk. »Würden Sie gerne wissen, wie es da aussieht? Sie haben sogar noch ein paar Kostüme von Tallulah Bankhead da hinten. Und die herrlichsten alten Filmplakate, die Sie je gesehen haben.«
Mary Alice und ich schauten einander an. »Ist dir danach, Maus?«
Selbst wenn ich halbtot gewesen wäre, hätte ich diese Chance ergriffen. Ich bin geradezu süchtig nach alten Filmen. Und das Alabama war immer schon das märchenhafteste Theater der Welt gewesen.
»Park das Auto«, sagte ich.
Wir stellten es auf der gegenüberliegenden Straßenseite ab, überquerten verkehrswidrig die Fahrbahn, um zur Seitentür des Theaters zu gelangen, und Dusk bat klopfend um Einlass.
Niemand antwortete, woraufhin sie noch einmal klopfte, lauter. Nach wie vor keine Reaktion. Mary Alice ergriff den Türknauf und drehte ihn. Die Tür ging auf, und wir traten in einen engen Korridor. Dusk knipste den Lichtschalter an,woraufhin ein paar von der Decke baumelnde Sechzig-Watt-Birnen die Betonmauern und den Zementboden beleuchteten. Alle Ansprüche an Grandezza waren an der Tür zurückgelassen worden.
»Es wird gleich besser«, versprach sie. Sie lief ans Ende des Ganges, öffnete eine weitere Tür und rief: »Hallo? Ist da jemand?«
»Wer ist da?«, rief eine männliche Stimme.
»Ich bin’s, Dusk Armstrong. Sind Sie das, Mr Taylor?«
»Was machen Sie denn hier, Dusk?« Mr Taylor tauchte aus dem Dunkel auf. Sein dünnes rötliches Haar stand ab, als habe er darauf geschlafen. Was jedoch unsere Aufmerksamkeit fesselte, war das Stück Stoff, das er in der Hand hielt. Es sah wie ein altes Unterhemd aus, und es war voller Blut.
»Was ist los?«, fragte er, als er uns im Gänsemarsch zurückweichen sah. Ich kann nur ahnen, wie erschrocken wir ausgesehen haben mussten. Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen. »Oh, dieser Lappen hier. Das ist Farbe, meine Damen.« Er hielt ihn hoch, damit wir ihn inspizieren konnten. »Nur Farbe. Ich bessere die Stellen an der Wurlitzer-Orgel nach, auf die dieser beklagenswerte Mann neulich Abend gefallen ist. Er hat ihr nicht nur ein paar Kratzer versetzt, sondern glattweg eine Kante abgeschlagen. Das muss allerdings von jemandem, der sich mit Holzarbeiten auskennt, repariert werden. Ich beseitige nur die Kratzer und poliere dann das Ergebnis.« Er trat einen Schritt zurück. »Kommen Sie rein. Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe.«
Wir folgten ihm aufgeregt. Er war älter, als er mit dem Make-up im Gesicht auf der majestätisch nach oben schwebenden Wurlitzer-Orgel ausgesehen hatte. Vermutlich war er Ende sechzig.
Dusk stellte uns vor und sagte, dass sie ihre Schminktasche holen wolle.
»Gehen Sie nur zu. Ich war dabei zu überprüfen, ob der Lift an der Wurlitzer-Orgel in Ordnung ist.« Er wandte sich an Schwesterherz und mich. »Möchten die Damen vielleicht mal damit fahren?«
»Mein Gott, ja«, sagte Schwesterherz.
Dusk grinste angesichts unserer Begeisterung. Sie hatte ihre Kindheit nicht damit verbracht, im Alabama das Wunder der sich vom Boden erhebenden Wurlitzer-Orgel zu erleben. »Ich hole mein Schminkzeug«, sagte sie.
Wir waren auf der Ebene des Orchestergrabens und folgten Mr Taylor durch einen Flur, der mit einem grauen,
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