Mörderisches Musical
High-Tech zwischen dem überladenen Schnitzwerk und Blattgold des
alten Theaters.
Zu dem Widerspruch trugen auch die drei weißen
transportablen Toiletten bei, die wie riesige Wächter im Foyer standen.
Fran Burke stand vor der rückwärtigen Wand bei
der Tonkabine und sprach mit Sunny Browning. Er bewegte seine geschwollene Hand
auf dem Griff eines Aluminiumstockes. Als er Wetzon entdeckte, winkte er sie
mit einer Neigung des Kopfes zu sich.
»Möchtest du, daß ich mit dem Jungen rede?«
sagte Fran gerade, als Wetzon zu ihnen trat.
Sunny schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, es
ist besser, wenn ich das mache. Ich hole Twoey. Er kennt ihn seit Jahren.« Sie
sah Wetzon anerkennend an. »Wie ich höre, untersuchen Sie den Mord an Dilla.«
»Klatsch verbreitet sich schnell. Aber ehrlich,
ich weiß nicht mehr als Sie...«
»Ich würde mich nicht hineinziehen lassen, wenn
ich an deiner Stelle wäre, Mädchen.« Fran langte in eine seiner geräumigen
Taschen und zog eine Sammlung gelochter und mit einem Gummiring
zusammengehaltener Karten heraus. Totes Holz wurden sie genannt, weil
Freikarten fürs Theater ursprünglich aus Holz gemacht wurden. »Ich habe eine
Karte für dich.« Er blätterte den Packen durch, zog eine heraus und gab sie
ihr. L 102. »Carlos hat 101.«
»Wo ist dein schöner Stock geblieben?« Wetzon
steckte die Karte in die Manteltasche.
»Der hier ist bei Schnee besser«, antwortete er
beiläufig.
»Fran!« Aus dem Foyer tauchte ein junger Mann
auf. »Bill möchte wissen, ob du drei Karten für Joel Kidde reserviert hast.«
»Ja. Entschuldigt mich, meine Damen.« Fran
setzte sich langsam in Bewegung, als würden seine Gelenke blockieren, wenn er
längere Zeit Stillstand, was wahrscheinlich zutraf. Während Wetzon ihm
nachschaute, dachte sie: Er ist der große alte Mann der Tourneemanager. Es
klang durchaus plausibel, daß er den Kartenschwarzmarkt kontrollierte — falls
es tatsächlich einen gab.
»Ist was mit Smitty?« Wetzon und Sunny wurden
von der hereindrängenden Menge an die Wand gedrückt.
»Mort möchte, daß ich ihn abserviere.«
»Wann?«
»Jetzt. Heute abend. Ich werde bis nach der
Vorstellung warten, aber das ist doch beschissen — den Jungen nicht bis zur
Premiere zu behalten.«
»Große Klasse, dieser Mort Hornberg.« Wetzon
verspürte plötzlich Gewissensbisse, als sie auf den Mittelgang zuging. Es war
ihre Schuld, aber warum mußte Mort so streng sein? Er hätte Smitty nach der
Premiere wegschicken können.
Die Lichter im Haus wurden ein wenig matter.
Wetzon sah Smith und Joel Kidde, die weiter vorn ihre Plätze einnahmen. Audrey
Cassidy und Gideon Winkler saßen neben ihnen. Gideons goldenes Haar fiel locker
auf seine Schultern. Er trug sein Cape und hätte mit einem Vampir verwechselt
werden können.
Wetzon saß auf dem zweiten Platz vom Gang, und
während die Lichter im Zuschauerraum noch dunkler wurden, erschien JoJo am
Pult, ein dicker Pinguin in seinem Frack. Ein Beben lief durch das Publikum,
dann brandete Applaus auf. JoJo hob die Arme, deutete auf den Beckenschläger.
Wetzons Herz pochte. Dies war der Augenblick der Geburt. Die Becken klirrten,
und die Ouvertüre — ein seltenes Ereignis im modernen Musical — begann,
melodisch und komplex, Blechbläser im Marschrhythmus, im nächsten Augenblick
übergehend in eine unvergeßliche Ballade der Streicher. Das Publikum war
begeistert.
Carlos glitt auf den Randplatz neben ihr und
drückte ihre Hand. Seine war trocken und kalt.
Das Licht im Zuschauerraum erlosch. Der rote
Samtvorhang hob sich wie eine Girlande, und dahinter zeigte sich ein grell
bemalter Leinenvorhang mit einer Karnevalsszene, eine Schießbude, die vor ihren
Augen in tausend Lichter zu explodieren schien und sich zum vollständigen Bild
der ersten Nummer öffnete.
Durch den Lärm des hingerissenen Publikums sagte
Wetzon: »Toll.«
Carlos strahlte sie an und schien sich zu
freuen.
Der erste Akt rauschte vorbei, während jede
Nummer begeistert beklatscht wurde und JoJo Pausen für den Applaus einlegen
mußte. Carlos konnte nicht stillsitzen. Zweimal sprang er auf und verschwand im
hinteren Foyer, wo die Schöpfer des Musicals nervös auf und ab gingen, wie
Wetzon wußte.
Als nach dem ersten Akt der Vorhang mit einer
Explosion aus Licht und einem Crescendo der Becken fiel, war Wetzon schon
aufgestanden und spitzte auf dem Gang die Ohren. Denn so lange sie im
Showbusineß gewesen war, hatten sich alle, die mit der Show zu tun
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