Möwennest-Reihe Gesamtband (German Edition)
Das Badezimmerfenster war so schmal, dass sich nicht einmal ein Kind hätte hindurchzwängen können. Einzig das Fenster im Abstellraum schien annähernd geeignet, obgleich er in all den Jahren, in denen er hier gelebt hatte, nie in die Versuchung gekommen war, es zu öffnen. Es blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Er musste es einfach versuchen.
Harry hetzte in den Raum. Das war seine Chance; die Einzige.
Das Fenster bestand aus einem Holzrahmen, den man nach außen drücken und anschließen nach oben schieben konnte.
Mit einiger Gewalt drückte Harry gegen das Glas. Widerwillig gaben die Scharniere nach. Er hatte in diesem Raum nie gelüftet. Die Notwendigkeit dazu hatte nie bestanden. Weswegen das Klemmen nur allzu verständlich war. Er hatte dieses Zimmer kaum genutzt, wenn man davon absah, dass er hier allen möglichen Schund verstaut hatte, den er eigentlich nicht mehr gebrauchen konnte.
Der erste Schritt war geschafft und Harry gab nicht auf. Er zwängte die Finger unter den entstandenen Spalt und versuchte mit aller Kraft den Rahmen nach oben zu schieben.
Es geschah nichts.
Aus dem Flur war ein Krachen und l autes Knistern zu hören. Harry ließ von dem Fenster ab und drehte sich herum. Seine Augen rasten durch den Raum, immer auf der Suche nach einem Gegenstand mit dem er das Fenster aufhebeln konnte.
Er bekam jede Menge Klimbim zu Gesicht. Darunter war nichts, das ihm irgendwie hätte helfen können. Als er sich beinahe schon verzweifelt nochmals dem Fenster zuwandte, um es weiter mit den Händen zu versuchen, ereilte ihn der nächste Schock. Der absolute Super Gau. Viktor Kulac stand (wie aus dem Nichts auftauchend) plötzlich vor dem Fenster, drehte einen schwarzen Benzinkanister auf und goss den Inhalt über das klemmende Fenster, das Fensterbrett und rund herum auf die Außenwand.
Hilflos musste Harry mit ansehen, wie Viktor mit einem schadenfrohen Grinsen ein letztes Streichholz entzündete.
„Du Schwein! Du mieses Schwein. Lass mir wenigstens eine Chance, hier lebend rauszukommen“, schrie Harry in Panik.
„Ich bewundere deine Ausdauer, Harry“, sagte Viktor und kam ans Fenster. „Ich frage mich nur, ob das an deiner Naivität oder an deiner Dummheit liegt. Hast du wirklich geglaubt, du kämest hier raus?“
Der Killer stand jetzt mit dem Gesicht ganz nah an der Scheibe. Das Gesicht zu einer gemeinen Fratze verzogen, aus der all seine Arroganz, Kälte und seine Freude am Töten herausstachen.
Das Streichholz in der Hand flackerte unruhig und brannte langsam herunter.
Harry war verzweifelt und zornig zugleich . Er wollte nicht sterben; nicht hier und nicht so. Er mochte dieses Los nicht akzeptieren. Nicht nachdem er Minuten zuvor beinahe wieder zu dem geworden wäre, der er gewesen war.
In einem Anflug von Raserei stemmte er unerwartet heftig beide Hände gegen den unteren Teil des Fensterrahmens. Der Druck kam plötzlich und war so gewaltig, dass die Scharniere ihm nichts entgegenzusetzen hatten. Es krachte und gab einen metallischen Seufzer von sich. Das Fenster riss teilweise aus der Einfassung, schlug nach außen auf und traf den Killer mitten im Gesicht. Kulac schrie auf vor Schock und Schmerz. Er wankte, entfernte sich vom Fenster und tastete mit beiden Händen nach seiner Nase, die weniger als einen Atemzug später heftig zu bluten begann.
Harry hatte es nicht gesehen, aber das Zündholz musste Viktor dabei aus den Händen gefallen sein. Er hielt es jedenfalls jetzt, da sich die rote Körperflüssigkeit sturzbachähnlich über seine Finger ergoss, nicht mehr zwischen ebendiesen.
D as Schicksal war wieder einmal nicht auf Harrys Seite, denn ehe er sich dem Fenster genähert hatte, das eigentümlich und schief in der Fassung hing und außerdem einen breiten Riss durch die Konfrontation mit Viktors Kopf davongetragen hatte, bemerkte er die Rauchentwicklung unterhalb des Fensterbretts. Harry wusste, was das bedeutete und verfluchte sein unglaubliches Pech. Er versuchte die Reste des Fensters zu beseitigen, um hinaussteigen zu können.
Die Zeit reichte nicht aus und die Scharniere hatten sich dermaßen verkanntet, dass alle Kraft und Gewalt, die Harry in der kurzen Zeit aufbringen konnte, nicht ausreichte, um sie mehr als um Zentimeter zu bewegen.
Harry hörte das Feuer, beobachtete, wie es nach der Außenfassade gierte, und konnte nichts dagegen tun … Wieder einmal. Er fand, dass er darin mittlerweile wirklich einige Übung hatte.
Eine halbe Minute später geriet
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