Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
hier, man hat eine Matratze in einer engen Kammer für ihn ausgelegt, die meiste Zeit ist er jedoch im Haus unterwegs, steigt ruhelos hinauf und wieder hinunter und scheint solcherart Gjergis Platz eingenommen zu haben. Auch er muss natürlich für Pitras köstliches Essen mit einer Geschichte bezahlen. Ginge es nach mir, würde ich in diesem Fall auf die Bezahlung verzichten, denn Mladko Obranović ist ein miserabler Erzähler. Seine Geschichte hat keinen Anfang und kein Ende, sie ist nicht lustig, auch wenn er selbst zwischendurch ein paar Mal lachen muss. Es fehlt ihr an Spannung, und sie ist so wirr wie Mladkos Blick – von Zeit zu Zeit macht Miras Nicht-mehr-und-irgendwie-doch-noch-und-vielleicht-bald-wieder-Ehemann nämlich den Eindruck, er wisse nicht, wo er sich gerade befinde und wer er eigentlich sei; es ist beinahe so, als hätte er’s vergessen, ein Geist, der auf der Suche nach seinem früheren Selbst das Haus durchstreift, auf Erlösung durch eine unschuldige Seele hoffend.
Ob Mira als Erlöserin taugt? Ich wage es zu bezweifeln, auch wenn sie sich dazu entschlossen hat, Mladko den Behörden als ihren rechtmäßigen Ehemann zu präsentieren. Dieser Scheißkrieg hat ihn ruiniert, sagt sie ein paar Tage später zu Lukas. Die beiden sitzen in ihrer Küche, ich bin wieder einmal mit Aug’ und Ohr zur Stelle. Mladko war nie besonders ehrgeizig, sagt Mira, aber er hat sein Studium abgeschlossen und danach als Lehrer gearbeitet. Was hat er unterrichtet? Geografie und Geschichte. Der Krieg hat ihn dann allerdings völlig aus der Bahn gerissen. Geworfen, bessert der Oberlehrer sie aus. Okay, geworfen, wiederholt die Schülerin. Nach dem Krieg gab es viel zu wenige Lehrer, er hätte also leicht Arbeit finden können. Aber er ist einfach nicht zurückgekommen, zu mir nicht, nicht nach Sarajevo und auch nicht in seinen alten Beruf. Er hat lieber von irgendwelchen Jobs gelebt, bei einem Bauern, bei einer Tankstelle, als Kellner, keine Ahnung, was er noch alles gemacht hat. Er ist wahrscheinlich genauso traumatisiert wie viele hier im Haus, meint Lukas, auch wenn der Krieg schon lange zurückliegt. Mira setzt zu einer Antwort an, doch dann schweigt sie.
Lukas greift zur Flasche und schenkt zuerst Mira und dann sich selbst Wein ein, vielleicht hofft er darauf, dass sich ihre Zunge lösen und sie mehr von sich und ihrer Vergangenheit preisgeben möge. Er sieht richtig verwahrlost aus, sagt Mira dann, er sieht nicht gesund aus, er wirkt irgendwie … verloren, und das tut mir weh. Und plötzlich rinnen Tränen über ihre Wangen. Lukas greift über den Tisch nach ihrer Hand, sie lässt es mit sich geschehen, mit der anderen fingert sie ein Taschentuch aus der Hosentasche. Ich weiß nicht, wie er sich das alles vorstellt, wie er hier eine Wohnung und einen Job finden will. Als Lehrer ist es unmöglich, er kann ja kaum ein Wort Deutsch. Wenn er ohnehin schon als Kellner gearbeitet hat, dann kann er das ja auch in Österreich tun, schlägt Lukas vor. Mira winkt ab. Er weiß selbst überhaupt nicht, was er will. Er kommt mir vor wie ein Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger, der keine Ahnung hat, was er mit seinem Leben anfangen soll. Und ich hab’ schon eine bald zwölfjährige Tochter, danke, ich brauch’ nicht auch noch einen pubertierenden Sohn. Du musst dich von ihm lösen, sagt Lukas leise, aber eindringlich, doch das, Herr Neuner, ist mit Sicherheit die falsche Strategie. Danke, dass du mir sagst, was ich tun muss, antwortet Mira prompt. Aber ich …, setzt Lukas an, doch da kommt Alenka mit hängendem Kopf angeschlurft. Ich kann nicht schlafen, sagt sie auf Serbokroatisch und macht es sich in ihrem grellbunten Pyjama auf dem Mutterschoß bequem. Was ist los, fragt Mira besorgt. Weiß nicht, antwortet Alenka leise und kuschelt sich an ihre Mutter. Ihr könnt ruhig weiterreden, meint sie nach einer halben Minute allgemeinen Schweigens auf Deutsch, ich bin gar nicht da. Wir haben aber gerade schlecht über dich gesprochen, deshalb haben wir aus Höflichkeit aufgehört, versucht Lukas zu scherzen. Alenka zeigt ihm die Zunge, ihre Mutter streicht ihr ein wenig abwesend über die schlafzerzausten Haare und lächelt milde. Du solltest nicht so viel trinken, du riechst nach Alkohol, rügt das Töchterchen und rümpft die Nase. Und du solltest zu deiner alten Mutter nicht so frech sein. Und dann beginnt das gute Kind ganz plötzlich und unvermittelt zu weinen. Was ist denn, was ist denn, ist Mira ganz Bestürzung und
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