Momo
ganze Straße ab, aber keine Kassiopeia war zu sehen.
„Vielleicht“, dachte Momo, „hat sie sich schon auf den Heimweg zum Amphitheater gemacht.“
Momo ging also den gleichen Weg, den sie gekommen war, langsam zurück. Dabei spähte sie in jede Mauerecke und suchte in jedem Straßengraben. Immer wieder rief sie den Namen der Schildkröte. Aber vergebens.
Tief in der Nacht erst kam Momo im alten Amphitheater an. Auch hier suchte sie sorgfältig alles ab, soweit es in der Dunkelheit möglich war. Sie hegte die zaghafte Hoffnung, daß die Schildkröte durch ein Wunder schon vor ihr nach Hause gekommen wäre. Aber das war ja natürlich gar nicht möglich, so langsam wie sie war.
Momo kroch in ihr Bett. Und nun war sie wirklich zum ersten Mal ganz allein.
Die nächsten Wochen verbrachte Momo damit, ziellos in der großen Stadt umherzuirren und Beppo Straßenkehrer zu suchen. Da niemand ihr etwas über seinen Verbleib sagen konnte, blieb ihr nur die verzweifelte Hoffnung, ihre Wege würden sich durch Zufall kreuzen. Aber freilich, in dieser riesengroßen Stadt war die Möglichkeit, daß zwei Menschen sich zufällig begegneten, so verschwindend gering wie die, daß eine Flaschenpost, die ein Schiffbrüchiger irgendwo im weiten Ozean in die Wellen wirft, von einem Fischerboot an einer fernen Küste aufgefischt wird. Und doch, so sagte sich Momo, waren sie sich vielleicht ganz nah. Wer weiß, wie oft es geschah, daß sie just an einer Stelle vorüberkam, wo Beppo erst vor einer Stunde, einer Minute, ja vielleicht erst vor einem Augenblick gewesen war. Oder umgekehrt, wie oft mochte Beppo wohl kurz oder lang nach ihr über diesen Platz oder an diese Straßenecke kommen. Momo wartete deshalb oft an einer Stelle viele Stunden. Aber schließlich mußte sie doch irgendwann weitergehen, und so war es wieder möglich, daß sie sich nur um ein weniges verfehlten. Wie gut hätte sie jetzt Kassiopeia brauchen können! Wenn sie noch bei ihr gewesen wäre, sie hätte ihr geraten „WARTE“ oder „GEH WEITER!“, aber so wußte Momo nie, was sie tun sollte. Sie mußte fürchten, Beppo zu verfehlen, weil sie wartete, und sie mußte fürchten, ihn zu verfehlen, weil sie es nicht tat.
Auch nach den Kindern, die früher immer zu ihr gekommen waren, hielt sie Ausschau. Aber sie sah niemals eines. Sie sah überhaupt keine Kinder mehr auf den Straßen, und sie erinnerte sich an Ninos Worte, daß für die Kinder jetzt gesorgt sei.
Daß Momo selbst niemals von einem Polizisten oder einem Erwachsenen aufgegriffen und in ein Kinder-Depot gebracht wurde, lag an der heimlichen, unablässigen Überwachung durch die grauen Herren. Denn das hätte ja nicht in die Pläne gepaßt, die sie mit Momo hatten. Aber davon wußte Momo nichts.
Jeden Tag ging sie einmal zu Nino zum Essen. Aber mehr als bei ihrer ersten Begegnung konnte sie nie mit ihm reden. Nino war immer in der gleichen Eile und hatte niemals Zeit.
Aus den Wochen wurden Monate. Und immer war Momo allein. Ein einziges Mal erblickte sie, als sie in der Abenddämmerung auf dem Geländer einer Brücke saß, in der Ferne auf einer anderen Brücke eine kleine gebückte Gestalt. Diese schwang hastig einen Besen, als gelte es ihr Leben. Momo glaubte Beppo zu erkennen und schrie und winkte, aber die Gestalt unterbrach ihre Tätigkeit keinen Augenblick. Momo rannte los, aber als sie auf der anderen Brücke ankam, konnte sie niemand mehr entdecken.
„Es wird wohl nicht Beppo gewesen sein“, sagte Momo zu sich, um sich zu trösten. „Nein, das kann er gar nicht gewesen sein. Ich weiß doch, wie Beppo kehrt.“
An manchen Tagen blieb sie auch zu Hause im alten Amphitheater, weil sie plötzlich hoffte, Beppo könnte vielleicht vorbeikommen, um nachzusehen, ob sie schon zurückgekommen sei.
Wenn sie dann gerade nicht da wäre, mußte er natürlich glauben, sie sei noch immer verschwunden. Auch hier quälte sie wieder die Vorstellung, daß genau das vielleicht schon geschehen war, vor einer Woche oder gestern! Also wartete sie, aber sie wartete natürlich vergebens. Schließlich malte sie in großen Buchstaben an die Wand ihres Zimmers: BIN WIEDER DA. Aber niemals las es jemand außer ihr selbst.
Eines jedoch verließ sie nicht in all dieser Zeit: Die lebendige Erinnerung an das Erlebnis bei Meister Hora, an die Blumen und die Musik. Sie brauchte nur die Augen zu schließen und in sich hineinzuhorchen, so sah sie die glühende Farbenpracht der Blüten und hörte die Musik der Stimmen. Und wie am ersten
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