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Mona Lisa Overdrive

Mona Lisa Overdrive

Titel: Mona Lisa Overdrive Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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er. »Heiß Colin. Und du?«
    Sie machte große Augen. Seine Augen waren giftgrüner Rauch, die hohe Stirn blaß und glatt unter der widerspenstigen dunklen Stirnlocke. Durch seine blitzenden Zähne konnte sie die Sitze auf der andern Gangseite sehen. »Wenn du's weniger gespenstisch magst«, sagte er grinsend, »können wir aufdrehn ...« Und einen Moment war er unangenehm scharf und echt; der Flor auf dem Revers seines dunklen Mantels flimmerte in halluzinatorischer Klarheit. »Verbraucht aber viel Batterie«, sagte er und verblaßte wieder zum Urzustand. »Hab deinen Namen nicht verstanden.« Wieder das Grinsen.
    »Du bist nicht echt«, sagte sie streng.
    Er zuckte die Achseln. »Nicht laut reden, Miss. Die Mitreisenden werden sich nur wundern, wenn du verstehst, was ich meine. Geht subvokal. Ich krieg's alles über die Haut...« Er spreizte die Beine, streckte sich und verschränkte die Hände hinterm Kopf. »Angurten, Miss. 'türlich brauch ich mich nicht anschnallen, weil ich, wie du gesagt hast, nicht echt bin.«
    Kumiko runzelte die Stirn und schmiß das Gerät dem Spuk in den Schoß. Er verschwand. Sie
    gurtete sich an, beäugte das Ding kurz, zögerte und nahm es wieder zur Hand.
    »Bist denn das erste Mal in London?« fragte er und rauschte ins Blickfeld. Sie nickte ungewollt.
    »Du hast doch nichts gegen's Fliegen? Hast doch keine Angst?«
    Sie schüttelte den Kopf; lächerlich kam sie sich vor.
    »Keine Sorge«, sagte der Geist. »Ich paß auf dich auf. Heathrow drei Minuten. Holt dich jemand vom Flugzeug ab?«
    »Der Geschäftsfreund meines Vaters«, sagte sie auf japanisch.
    Der Geist grinste. »Dann wirst du ja in besten Händen sein.« Er zwinkerte. »Sieht man mir nicht an, daß ich Sprachen kann, was?«
    Kumiko schloß die Augen, und der Geist fing an, ihr flüsternd etwas einzuflößen, etwas über die Archäologie von Heathrow, über die Jungsteinzeit und die Eisenzeit, über Töpferei und Werkzeuge ...
    »Miss Yanaka? Kumiko Yanaka?« Der Gaijin*, ein Engländer, beugte sich, seine Massen
    elefantenartig mit dunklem Tuch drapiert, über sie. Kleine dunkle Augen musterten sie sanft durch eine Nickelbrille. Seine Nase sah aus, als sei sie praktisch plattgedrückt, aber nie gerichtet worden. Sein Haar, der kärgliche Rest, war geschoren, so daß nur graue Stoppeln blieben, und die fingerlosen schwarzen Strickhandschuhe waren ausgefranst.
    »Mein Name, nicht wahr«, sagte er, als würde dies sie sofort beruhigen, »ist Petal.«
    Fetal nannte die Stadt 6PRNH
    Kumiko fröstelte auf dem kalten roten Leder; durch die Scheibe des betagten Jaguars
    beobachtete sie, wie der Schnee fiel und auf der Straße schmolz, die Petal M4 nannte. Farblos war der Spätnachmittagshimmel. Er fuhr schweigend, gut, die Lippen gespitzt, als wollte er pfeifen. Unmöglich wenig Verkehr für Tokioter Begriffe. Sie überholten einen unbemannten Eurotrans-Laster, dessen stumpfer Bug mit Sensoren und ganzen Frontscheinwerferbatterien
    bestückt war. Trotz der Geschwindigkeit des Jaguars hatte Kumiko das Gefühl, irgendwie
    stillzustehn; ringsum verschmolzen die Partikel Londons allmählich miteinander. Nasse
    Ziegelmauern, Betonbögen, schwarzlackiertes Schmiedeeisen in Reih und Glied.
    Vor ihren Augen nahm die Stadt schließlich Gestalt an. Nach der M4 konnte sie, wenn der Jaguar an Kreuzungen anhielt, durch den Schnee Gesichter sehen, gerötete Gaijin-Gesichter über dunkler Kleidung mit schalvermummtem Kinn, Frauenstiefel in silbernen Pfützen. Die Fluchten von
    *Gaijin: jap.: Ausländer. — $QP G hEHUV
    Geschäften und Häusern erinnerten sie an das herrlich detailgetreue Zubehör einer
    Spielzeugeisenbahn, die sie aufgebaut in einem europäischen Antiquitätengeschäft von Osaka gesehen hatte.
    Es war nicht zu vergleichen mit Tokyo, wo die Vergangenheit
    was davon übrig war — mit ängstlicher Fürsorge behütet wurde. Historisches hatte dort
    Seltenheitswert, zählte rein quantitativ, wurde von den Behörden zugeteilt und durch Gesetze geschützt und Firmengelder erhalten. Hier schien alles aus nichts andrem zu bestehen, als wäre die Stadt ein einziges Gewächs aus Stein und Ziegel, aus vielschichtigen Intentionen, aus Zeiten, das durch die Jahrhunderte entstanden war nach dem Diktat einer jetzt alles andere als unleserlichen DNS aus Kommerz und Empire.
    »Bedaure, daß Swain nicht selber rauskommen und dich begrüßen konnte«, sagte der Mann, der Petal hieß. Kumiko kam mit seinem Akzent besser klar als mit der

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