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Mona Lisa Overdrive

Mona Lisa Overdrive

Titel: Mona Lisa Overdrive Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Müde?«
    »Nein.«
    »Ich schon.« Sie zog den schwarzen Pulli über den Kopf. Sie hatte einen kleinen Busen mit rötlich-braunen Warzen. Eine Narbe fing direkt unter der linken Brustwarze an und verschwand im Hosenbund der Jeans.
    »Eine Verletzung«, sagte Kumiko mit Blick auf die Narbe.
    Sally sah hinab. »Ja.«
    »Warum hast du das nicht wegmachen lassen?«
    »Manchmal ist es gut, wenn man erinnert wird.«
    »Daß man verletzt war?«
    »Daß man blöd war.«
    Grau in Grau. Kumiko, die nicht schlafen konnte, ging auf dem grauen Teppichboden hin und her. Das Zimmer hatte irgend etwas Vampirhaftes an sich, fand sie, wie Millionen ähnlicher Zimmer, als würde seine komisch fugenlose Anonymität ihre Persönlichkeit aufsaugen, die fragmentarisch zum Vorschein kam als elterliche Stimmen, die im Streit tobten, als Gesichter der schwarzgewandeten Sekretäre des Vaters ...
    Sally schlief. Ihr Gesicht war eine Totenmaske. Der Blick aus dem Fenster sagte Kumiko überhaupt nichts: nur daß sie auf eine Stadt hinausschaute, die weder London noch Tokyo war, ein riesiges allgemeines Durcheinander, Inbegriff urbaner Realität ihres Jahrhunderts.
    Vielleicht schlief sie auch, überlegte Kumiko nachher; sicher war sie sich nicht. Sie verfolgte, wie Sally Toilettenartikel und Unterwäsche bestellte, indem sie die benötigten Artikel in den Bildschirm neben dem Bett tippte. Ihre Bestellung wurde ausgeliefert, während Kumiko unter der Dusche stand.
    »Okay«, sagte Sally hinter der Tür, »trockne dich ab, zieh dich an! Wir gehn den Mann besuchen.«
    »Welchen Mann?« fragte Kumiko, aber Sally hatte sie nicht mehr gehört.
*RPL
    Fünfunddreißig Prozent der Landmasse von Tokyo waren auf *RPL gebaut, auf tiefem Gelände, das der Bucht durch hundertjährige systematische Aufschüttungen wieder abgetrotzt worden war.
    *RPL war da ein Rohstoff, der verwaltet, gesammelt, sortiert und gründlich untergepflügt wurde.
    Londons Verhältnis zu *RPL war eher heikel, indirekter. Die Stadt bestand in Kumikos Augen geradezu aus *RPL aus Bauten, die die japanische Wirtschaft längst verschlungen hätte in ihrer unstillbaren Gier nach Bauland. Dennoch enthüllten diese Bauten selbst für Kumiko Zeitstrukturen; jede Mauer war im Zuge des ewigen Restaurierungswerkes von Generationen von Händen ausgebessert worden. Die Engländer wertschätzten ihren Gomi. als solchen, was Kumiko erst zu verstehen anfing: sie bewohnten ihn.
    Im Sprawl war Gomi was ganz anderes: dicker Humus, Kompost, der Monstren aus Stahl und Polymer hervorbrachte. Schon die mangelnde Planung, die offenbar wurde, stieß Kumiko vor den Kopf, war sie doch das krasse Gegenteil zum Stellenwert, den ihre Kultur einer effizienten Bodennutzung beimaß.
    Bei der Taxifahrt zum Flughafen hatte sie bereits den Verfall gesehen. Ganze Häuserreihen waren baufällig, scheibenlose Fenster gähnten über Gehsteigen, auf denen sich Müll türmte. Und die Leute starrten, als der gepanzerte Hover durch die Straßen fegte.
    Nun stürzte Sally sie unverhofft mitten in die bizarre City mit ihrer Fäulnis und Planlosigkeit, aus der Türme sprossen, die höher als jeder Wolkenkratzer von Tokyo waren, firmeneigene Obelisken, die die rußigen Rippengewölbe der sich überlappenden Dome durchbrachen.
    Zwei Taxifahrten vom Hotel entfernt stürzten sie sich dann ins frühabendliche Gewühl der dämmrigen Straßen. Die Luft war kalt, aber nicht so kalt wie in London, und Kumiko dachte an die Blüten im Ueno Park.
    Der erste Besuch galt einer großen, etwas vergilbten Bar namens Gentleman Loser, wo Sally ein knappes, geflüstertes Gespräch mit einem Barkeeper führte.
    Sie gingen, ohne was zu trinken.
    »Erinnerungsträchtig«, sagte Sally, als sie um eine Ecke bogen. Kumiko ging dicht daneben. Die Straßen waren zusehends leerer geworden seit den letzten Blocks, die Häuser dunkler und schäbiger.
    »Wie bitte?«
    »Sehr erinnerungsträchtig, das ganze hier. Sollte es zumindest sein.«
    »Du kennst die Gegend?«
    »Klar. Alles noch genauso, trotzdem anders, verstehst du?«
    »Nein...«
    »Eines Tages wirst du das. Wenn wir den Mann finden, den ich suche, spielst du einfach das brave Mädchen. Red nur, wenn du angesprochen wirst, sonst nicht.«
    »Wen suchen wir?«
    »Den Mann. Zumindest was noch von ihm übrig ist...«
    Einen halben Block weiter war die triste Straße menschenleer. Kumiko hatte noch nie eine OHHUH
    Straße gesehen außer Swains verschneitem Straßenbogen um Mitternacht. Sally blieb vor einer

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