Mond der verlorenen Seelen
Blick suchte die leeren Zuschauerreihen ab. In einer der hinteren Reihen saß Samuel Duncan und applaudierte. Lässig lehnte er sich zurück, mit einem hintergründigen Lächeln auf den Lippen. Er sah unverschämt gut aus, in der schwarzen Lederjacke und den Jeans. Ausgerechnet ihn hatte sie hier nicht erwartet. Sie konnte den Blick nicht von ihm lösen, starrte ihn so lange an, bis die Konturen seines Gesichts verschwammen und sich zu Aidans formten. Das Lampenfieber schien ihre Wahrnehmung getrübt zu haben. Ihre Fantasie gaukelte Wunschträume vor. Nur der Ausdruck in den Augen besaß nicht die einzigartige Mischung aus ungezügelter Leidenschaft und Sanftheit, wie sie Aidan eigen war. Amber zwinkerte und der Eindruck verflog. Zurück blieb ein Druck hinter ihrer Stirn, wie ein Kater. Die Kälte blieb. Es war die Art von Kälte, die einen Vampir umgab, so wie sie es von Aidan kannte. Seine Fähigkeit zu translozieren unterlag einer steigenden Entwicklung. War es ihm vielleicht möglich gewesen, für einen Moment hier zu sein? Je weiter sich ihre Sinne entwickelten, desto mehr verwirrte sie das. Manchmal konnte sie nicht unterscheiden, ob sie die Worte tatsächlich gehört oder erfühlt hatte. Die Übergänge zwischen Wirklichkeit, Traum und Fantasie begannen, zu fließen.
„Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht. Wie war noch Ihr Name?“ Munros barsche Stimme riss sie aus den Gedanken.
„Amber Stern. Möchten Sie vielleicht noch etwas hören?“
„Das reicht. Sie haben den Job. Ist aber nur eine Nebenrolle. Die Proben beginnen in der kommenden Woche. Ich sehe Sie am Montag um zwei. Und nehmen Sie sich nicht die Gardener zum Vorbild.“ Munros Mundwinkel zogen sich ein wenig nach oben, was an einen Clown mit aufgemaltem Lächeln erinnerte.
Amber konnte ihr Glück kaum fassen. „Danke, Mr. Munro. Ich werde da sein. Entschuldigung, Sir, Beth hatte bestimmt wichtige Gründe. Sie würde niemals einfach so davonrennen.“
Munro hob seine buschigen Brauen und wollte antworten, aber dann überlegte er es sich und sagte stattdessen: „Ich hoffe nur, dass mir mit Ihnen nicht das Gleiche passiert.“
„Nein, Sir.“
Munro drehte sich zu Samuel um. „Sam, sind Sie auch einverstanden, wenn Miss Stern unser Team bereichert?“
Dass Samuel Duncan hier im Theater arbeitete, überraschte Amber. Sie konnte nicht leugnen, dass sie hoffte, er würde jetzt ein gutes Wort für sie einlegen.
Samuel lächelte breit. „Aber klar doch.“
Der Ausdruck in seinen Augen war begehrlich, besitzergreifend, fordernd, und verursachte ein Gefühl, das sie nur bei Aidan gespürt hatte. Diese Avancen waren ihr unangenehm. Dass sie seine Gefühle nicht wahrnehmen konnte, ließ sie noch mehr auf Distanz gehen.
Munro stand auf und hob die Hand zum Gruß. „Wir sehen uns. Bye.“
„Bye“, murmelte Amber und verließ die Bühne durch die Stahltür, durch die sie gekommen war, ohne Samuel Beachtung zu schenken.
Als sie das Theater verließ, glaubte sie aus einem Traum zu erwachen. Wenn sie jemandem davon erzählte, würde er denken, sie hätte Drogen genommen. Und das Schlimme daran war, es fühlte sich auch so an. In ihrem Kopf drehte sich alles, nur die kühle Luft draußen vertrieb die Schleier aus ihrem Gehirn.
„Bravo, welch ein Talent.“
Schon der Klang seiner Stimme rührte an ihren Sinnen. Amber drehte sich zu ihm um. Es lag etwas in seiner Aura, das sie nicht beschreiben konnte, eine Unbezähmbarkeit, die sie gleichzeitig faszinierte und abstieß. Über seiner grünen Iris lag ein graues Netz. Vielleicht ein neuer Modetrend bei Kontaktlinsen oder eine Laune der Natur.
„Danke, Samuel. Ich bin ehrlich gesagt erstaunt, dich hier anzutreffen. Gehörst du zum Ensemble?“
„Nicht bei allen Vorstellungen, nur wenn ich Zeit habe. Meine Grandma sponsert das Theater.“
Eine reiche Großmutter besaß er also auch noch. Weshalb war sein Vater ein Schäfer? Alles an Samuel war widersprüchlich.
„Heute leistest du mir wenigstens bei einer Tasse Kaffee Gesellschaft, nach der Abfuhr von neulich. Einen weiteren Korb nehme ich nicht hin.“
Sein Blick saugte sich an ihrem fest. Er sprühte nur so vor Selbstsicherheit. Bei seinem Aussehen war er eine Zurückweisung sicherlich nicht gewohnt. Aber sie verspürte keine Lust auf Gesellschaft. Etwas sträubte sich in ihr, ihn zu begleiten. Es störte sie immer mehr, dass er ihr seine Gefühle nicht preisgab, als umgäbe ihn ein Panzer.
„Ich ...“ Amber wurde wieder
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