Mond-Elfe
Electra schon dort gewesen. Aber das war’ nicht dasselbe, denn sie hatte so viele Jahrhunderte geschlafen.
Es flößte ihr etwas Furcht ein, wenn sie daran dachte, wie alt Electra war, jedenfalls wenn sie von dem Zeitpunkt ihrer Geburt an rechnete. Deshalb dachte sie normalerweise nicht daran. Sie nahm Electra, wie sie nun einmal war, also etwas jünger als achtzehn Jahre, obwohl sie wie fünfzehn aussah. Allem Anschein nach war sie eine gute Partie für Prinz Dolph, der wirklich erst fünfzehn war und auf die sechzehn zuging. Zu schade, daß es ihr an den Eigenschaften fehlte, die solch einen Teenager aufregten, wie beispielsweise einen attraktiven Körper und ein Gesicht ohne Sommersprossen. Electras war ohne Zweifel ein gutes Mädchen, aber Männer jeglichen Alters waren mehr an der äußeren Erscheinung als an wirklichen Qualitäten interessiert. Wenn Nada vielleicht mit Electra daran arbeiten würde, sie etwas interessanter zu machen…
Ihr Gedankengang wurde durch das Szenario im Kürbis unterbrochen. Sie befanden sich in der Mitte eines Dorfes… nein, eines Städtchens… nein, einer Stadt von Pflanzen. Pflanzen raschelten durch die Straßen und kletterten die Treppen zu den Gebäuden hoch, während ausgesuchte Tiere und menschliche Wesen dekorativ in Pflanzkübeln umherstanden.
»Pflanzenstadt«, erklärte Electra und ließ ihre Hand los, da sie beide sicher im selben Szenario angekommen waren. »Was für ein Spaß!«
Nada beneidete sie um ihre Fähigkeit, Vergnügen an allen möglichen seltsamen Dingen zu finden. Sie selbst wäre lieber wieder zurück auf Schloß Roogna gewesen, um dort einen der romantischen Romane aus der Schloßbücherei zu lesen. Einer der Geister hatte Zora Zombie diese Abteilung gezeigt, und Zora hatte ihr davon erzählt, denn sie beide liebten solche Bücher. In ihnen war die Romantik lebendig und wundervoll. Die Männer waren immer stattlich, stark und älter als die Frauen. Aber Electra machte sich kaum etwas aus Lesen. Sie war immer draußen an der frischen Luft, unternahm etwas, lernte neue Freunde kennen und strotzte vor unschuldigem Unternehmungsgeist. Zum Teil lag das daran, daß sie keine Prinzessin war und sich deshalb auch nicht so benehmen mußte. Sie konnte Blue Jeans und Zöpfe tragen, mit dem Burggrabenungeheuer Fangen spielen, auf dem Eselszentaur in einem unschicklichen Galopp durch den Obstgarten reiten und unfeine Kraftausdrücke benutzen, ohne deshalb gescholten zu werden. Sie konnte sich einfach in den Schmutz fallen lassen und Sandkuchen formen. Nada mußte so tun, als wenn sie an solchen Kindereien nicht interessiert sei. Aber wenn sie jemals einen geheimen Ort gefunden hätte, wo sie vor neugierigen Augen sicher war, dann hätte auch sie dort Sandkuchen geformt. Und das wichtigste von alledem war, daß Electra nicht ständig aufpassen mußte, daß jemand ihre Höschen sah. In Blue Jeans bestand schon von vornherein keine Gefahr, und außerdem interessierte sich sowieso niemand für sie. Gerade wegen dem, was sie nicht war, konnte sie ein derart sorgloses Leben führen.
Doch in einer Woche würde sie sterben, wenn sie nicht das bekam, was Nada ihr nur zu gern überlassen würde: die Heirat mit Prinz Dolph. Niemand, der sie nur vom Aussehen oder von ihren ständigen Aktivitäten her beurteilt hätte, würde etwas von ihrer Tragödie ahnen. Aber die gab es, und sie zeichnete sich jeden Tag deutlicher ab. Jetzt wünschte sich Nada, den Mut aufzubringen, ihre Verlobung mit Dolph zu lösen, wenn sie nur die Möglichkeit hätte, das ohne eine Verletzung ihres Volks zu vollziehen. Aber sie hatte es nicht ernstgenommen, daß die Zeit für Electra tatsächlich ablaufen würde. Sie hatte immer darauf gehofft, daß irgend etwas passieren und das Problem dadurch gelöst wäre. Jetzt wußte sie, daß dem nicht so war. Dolph mußte zwischen ihnen wählen, und keine von beiden wollte sich darauf verlassen.
Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, diese Wahl zu steuern und sie aus seinen unbeholfenen Händen zu nehmen! Aber das schien unmöglich, solange sie beide lebten. Solange sie beide lebten. Auf einmal hatte Nada einen Einfall. »Schau, ein Kekshinweis!« rief Electra in ihrer begeisterten Art. Sie hatte genau das getan, was Nada hätte tun sollen, sich nämlich überall umzusehen und nach dem Weg zu schauen. »Sieh doch, dort bei dem Schafsbock mit dem grünen Bauch.«
Nada schaute hin. Tatsächlich, dort stand ein großes männliches Schaf mit grüner Wolle auf dem
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