Mondlaeufer
»Egal, welche von Urivals Möglichkeiten zutrifft, er muss sich vor uns einfach fürchten.«
»Uns?«, fragte Tobin überrascht. »Weißt du, dass du dich eben zum ersten Mal zu den Lichtläufern gezählt hast?«
Er zuckte die Achseln. »Ich habe eine Frau, zwei Söhne, eine Schwägerin und einen Neffen, die alle Faradh’im sind. Mein ältester Sohn will eine Lichtläuferin heiraten. Wir sitzen hier mit der Herrin der Schule der Göttin zusammen, der ganze Ort wimmelt nur so von Lichtläufern, und du meinst, ich dürfte nicht ›wir‹ sagen?«
»Wie schön zu hören, dass der Herr von Radzyn uns endlich akzeptiert«, sagte Andrade trocken. »Die Frage ist jetzt, wie wir die Dinge zu unserem Vorteil wenden können.«
Rohan sah nachdenklich aus. »Nehmen wir an, Masul war ebenso überrascht wie Sorin und weiß nicht, dass jemand ihm hilft, dann wäre es möglich . . .«
»Was, Vater?«, fragte Pol.
»… ihn in diesem Glauben zu unterstützen und ihm eine ganz verblüffende Hilfe anzubieten.« Er wandte sich an Pandsala. »Könntet Ihr Euren Hass lange genug bezähmen, um ihn davon zu überzeugen?«
Die zögerte und schüttelte dann den Kopf. »Ich war zu heftig. Noch vor ein paar Tagen vielleicht, nach meinem Gespräch mit Kiele. Wir stimmten beide darin überein, dass uns eine Demütigung von Chiana sogar auf diese Art außerordentlich befriedigen würde. Aber nach dem gestrigen Zusammenstoß mit Masul …« Sie hob ihre Hände und ließ sie zurück in ihren Schoß sinken. »Tut mir leid, denn die Idee ist hervorragend. Aber eine plötzliche Kehrtwendung in seine Richtung würde jetzt Verdacht erregen. Wenn eine meiner Schwestern die Gabe hätte, wäre es vielleicht möglich. Aber ich kann nicht einmal seinen Namen denken, ohne dass ich ausspucken möchte.«
»Da seid Ihr nicht die Einzige«, murmelte Tobin. »Sorin, wie geht es deiner Schulter?«
»Sie heilt, Mutter. Keine Sorge.«
»Das war’s dann wohl mit meiner Idee.« Rohan streckte die Beine vor sich aus und starrte auf seine Stiefel. »Wir können die Möglichkeit ausschließen, dass das Feuer für Masul bestimmt war, weil wir wissen, dass das nicht stimmt. Wir müssen das nehmen, was wir für die Wahrheit halten: dass er entweder nichts wusste und sich über die Hilfe freute oder dass er es recht gut wusste.« Er machte eine Pause und wandte seinen Blick dann langsam Urival zu. »Ich würde jetzt gern hören, Herr, warum Ihr so sicher seid, dass kein Lichtläufer heimlich andere Ziele als die unseren verfolgt.«
Urivals goldbraune Augen verdunkelten sich, und seine Gesichtszüge glichen jetzt roh behauenem Stein. Wie zuvor Sioned sah er sich im Kreis um, jedoch nicht, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Stattdessen betrachtete er jedes Gesicht, von denen einige wissend, andere völlig verwirrt schienen. Als er schließlich alle Anwesenden nach verborgenen Kriterien eingeordnet hatte, sprach er:
»Ich verdächtige keinen der Faradh’im. Ich habe sie alle ausgebildet; ich kenne sie. Wen ich verdächtige, das ist ein Unbekannter, der die alten Hexenkünste ausübt, zu deren Bekämpfung die Lichtläufer Dorval verlassen haben. Es ist ein Schock, aber nicht direkt eine Überraschung, zu wissen, dass es noch immer Nachkommen der alten Zauberer gibt.«
»Aber sie benutzen das Sternenlicht, nicht die Sonne«, wandte Andry ein. »Was heute passierte, geschah am helllichten Tage!«
Ostvels Blick hing an dem glühenden Kohlenbecken; seine grauen Augen leuchteten in dem Schein wie Rubine. »Meine verstorbene Frau kam aus den Bergen von Firon, wie man an ihrer dunklen Haut erkennen konnte. Wo sie aufgewachsen ist, waren die Legenden von den Hexen mehr als nur Legenden. Es gab zwei Arten von Begabung, eine davon besitzen die Faradh’im. Die andere ist sehr ähnlich, aber doch anders. Sie konnten Sonnenlicht benutzen, wenn sie wollten, doch sie zogen die Sterne vor, weil sie glaubten, dass deren Kraft mächtiger ist. Am liebsten arbeiteten sie in mondlosen Nächten. Camigwen glaubte immer, dass den Lichtläufern das Sternenlicht nur deshalb verboten ist, weil jene anderen es benutzt haben. Die alten Faradh’im wollten nicht mit ihren Feinden verwechselt werden.«
Sioned murmelte: »Sie hat mir einige von diesen Geschichten erzählt, als wir noch sehr jung waren. Ich habe nie daran geglaubt.«
Andrades Finger schlugen einen langsamen Rhythmus auf ihre Armlehne, wobei ihre juwelenbesetzten Ringe das Licht in Regenbogen verwandelten. »Das
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