Mondlaeufer
den Abgrund zu überwinden, der seit ihrer Ankunft in Waes so offensichtlich zwischen ihnen klaffte, auch jetzt nicht. So viel jedenfalls verriet Maarkens Miene, als er sich wieder zu ihnen gesellte. Plötzlich war Pol wütend auf Hollis. Jeder Mensch mit etwas Verstand wusste, dass kein Mann und keine Frau mit der Erinnerung an tränennasse Augen in den Kampf geschickt werden sollten. Er hatte im Frühjahr in Stronghold beobachtet, wie die Menschen Abschied nahmen, und daraus gelernt; selbst wenn kein Krieg drohte, war ein Sommer an der Grenze zu Cunaxa immer gefährlich. Er hatte vor allem gesehen, wie Lady Feylin Lord Malvis Lebewohl gesagt hatte. Sie hatte ihn umarmt und geküsst und dann mit ihm geschimpft, dass er seinen verflixten Harnisch so blank poliert habe, dass es ihren Augen wehtäte, ihn anzusehen. Sie hatten sich neckend voneinander verabschiedet genauso wie Tobin es vor Kurzem mit ihrem Sohn gemacht hatte. Er hatte gesehen, dass die Männer und Frauen in Stronghold ihre Gefühle genauso verbargen, wenn ihre Frauen, Männer und Liebsten in die Schlacht zogen. Hollis würde es lernen müssen.
Andry schickte sich an, die Dinge noch schlimmer zu machen. »Maarken, sie liebt dich wirklich, sie war bloß den ganzen Sommer krank und …«
Pol fixierte Andry mit einem Blick, der hoffentlich dem kältesten Blick seines Vaters wenigstens annähernd gleichkam. Offensichtlich gelang es ihm besser, als er gehofft hatte; der neue Herr der Schule der Göttin wurde rot wie ein Schuljunge und sah zur Seite. Doch im nächsten Moment kam der Mann, der Pol so verunsicherte, wieder zum Vorschein und sah ihn ebenso eisig an. Sie beide hatten sich als Faradh’im getroffen, hatten Dinge über die Stärken des anderen erkannt, die sie noch nicht völlig untersucht hatten. Und plötzlich hatte Pol das ungute Gefühl, dass keiner von beiden je in Frieden mit dem anderen leben würde, wenn es nicht gar zum offenen Kampf mit Andry kommen würde. Es gab zu viel Macht auf beiden Seiten.
Gütige Göttin, warum gibt es diese Macht, dachte er unvermittelt, als sie zum Pavillon des Hoheprinzen hinübergingen, wo der Rest der Familie sicher schon wartete. Was hatte man davon? Roelstra hatte seinen Spaß daran gehabt, die Prinzen gegeneinander aufzuhetzen und dann seinen Schnitt zu machen. Maarken hatte den Kontinent unter der Herrschaft der Lichtläufer neu ordnen wollen.
Sein Vater wollte ein Gesetzeswerk schaffen, das so weit reichte wie das Lichtgewebe, das die Faradh’im in der letzten Nacht gesponnen hatten. Aber was wollte Andry?
Und noch wichtiger: Was wollte er selbst?
All diese quälenden Fragen waren plötzlich vergessen, als er seine Eltern und die anderen vor dem großen Zelt traf. Urival stand steif und gerade da, als fürchte er, dass jedes Nachlassen der Spannung seine sorgfältig aufgebaute Mauer gegen die Trauer zum Einsturz bringen könnte. Chay hielt sich ebenso aufrecht, jedoch ohne Anspannung. Er ging auf seinen Sohn zu, um ihn zu umarmen, wobei seine ganze Gestalt Zutrauen und Stolz ausstrahlte.
»Pol.«
Er war verwirrt, als er seine Mutter hörte. Ihre Stimme klang fest, und es fehlte ihr der gewohnte melodische Klang. Mechanisch ging er zu ihr hinüber, und sie hielt ihm einen einfachen, schmalen Silberreif entgegen. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Eltern beide solche schmalen Bänder über der Stirn trugen, Diademe, die so gearbeitet waren, dass das Gold wie ein Edelstein blitzte. Er strich sich das Haar zurück und setzte sein Diadem auf. An seiner Haut erwärmte sich das kühle Metall rasch. Bisher hatte er nur zu wenigen Gelegenheiten dieses Statussymbol getragen; zuletzt bei seinem Abschiedsbankett in Radzyn, ehe er nach Graypearl aufgebrochen war, um dort Lleyns Knappe zu werden. Aber er wusste, dass er gerade heute jedermann an seinen Rang erinnern musste. Als ob irgendjemand diese Erinnerung nötig gehabt hätte, wenn er neben seinen Eltern, dem Hoheprinzen und der Höchsten Prinzessin, stand.
Rohan überprüfte Maarkens Harnisch, indem er hier an einem Lederriemen zupfte und dort eine Eisenschnalle untersuchte. Pol versteifte sich etwas, doch dann erkannte er, dass sein Vater das nicht aus Misstrauen den jungen Leuten gegenüber tat, die Maarken angekleidet hatten. Er brauchte einfach etwas zu tun.
Schließlich nickte Rohan zufrieden und trat zurück. Inzwischen hatten sich auch Davvi und Kostas sowie Volog und Alasen eingefunden. Ostvel brachte Maarkens eleganten, glänzenden Hengst, der
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