Mondlaeufer
und griffen nach dem Heft des Messers, das in ihren Oberschenkel gestoßen worden war. Ihre Finger tasteten sich durch die glatten Seidenfalten ihres Kleides, die bereits nass von Blut waren.
Es war kein Stich, der sie hätte umbringen können. Es durfte nicht so wehtun. Ihr Verstand wusste das. Doch das Messer war wie etwas Lebendiges, eine Schlange aus Stahl, die sich durch ihren Körper wand, jede Verbindung zwischen Körper und Geist, Denken und Macht zertrennte.
Er stieß sie lächelnd ins Gras. »Liebes Tantchen«, flüsterte er. Doch dann veränderte sich seine Stimme und wurde tiefer. Vor langer Zeit hatte sie gesehen, wie Andrade die uralte Kunst vorführte, durch jemand andern zu sprechen und dessen Augen und Ohren zu benutzen. Das war nicht Segevs Stimme, die sie jetzt hörte. »Es sind die Faradh’im, die den Schmerz fühlen – durch Euch –, und der Diamardhi in Euch erhält Euch am Leben. Aber nicht mehr sehr lange. Fühlt Ihr es in dem Messer? Eisen tötet nicht, es schmerzt nur. Aber alles, was Meridagift trägt, tötet.«
Sie hatte keinen Körper, keine Stimme, keinen Willen. Segev lächelte und sprach weiter mit jener anderen Stimme.
»Durch Euch werden sie sterben. Denn Ihr seid verbunden. Sie alle, alle diese blöden, schwachen Lichtläufer. Nur nicht Pol. Er ist einer von uns. Wusstet Ihr das denn nicht? Er gehört zu uns. Durch Rohan, durch Sioned, unwichtig: Er wird es überleben – und einen viel interessanteren Tod finden. Ihr werdet das zwar nicht mehr erleben, aber ich fand, Ihr solltet es erfahren.«
Segev lachte plötzlich leise und schadenfroh.
Pandsala hörte die Schreie der Faradh’im und fühlte ihren Schmerz. Ihretwegen. Sie roch das Blut, das aus ihren Adern floss. Sie spürte das warme, feuchte Messer in ihrer Hand. Doch sie hatte nicht die Kraft, es herauszuziehen, dieses eiserne Gift, das die Lichtläufer tötete, und das Meridagift, das sie selbst umbrachte. Sie sah das Gesicht des Jungen weiß werden, als die Macht in seinen Augen aufflammte und ihn durchschauerte. Er lächelte, und diesmal war es Ianthes Lächeln. Dann starben die rotgoldenen Flammen und Pandsala mit ihnen.
Ein gellender Schrei erklang wie aus einer einzigen Kehle. Die Lichtläufer heulten auf vor Qual, als ihre im Zauber gefangenen Farben unerträglich intensiv aufflammten, der Schmerz in ihnen pochte und ihren Geist von innen her zu zerstören drohte. Der Feuerdom fiel in sich zusammen. Die Wasseruhr, die daneben auf einem Tischchen stand, zerbarst und zersprang in unzählige Kristallscherben. Sioned wand sich in den Armen ihres Mannes und versuchte mit letzter Kraft verzweifelt, Ordnung und Muster wiederherzustellen. Doch der bewölkte Himmel mit den einzelnen Sonnenstrahlen war plötzlich schneidend scharf wie das Stahlgrau schattiger Messer.
Sie alle – selbst Alasen, die von Faradhi -Kunst kaum etwas wusste –, alle Lichtläufer fühlten den grausamen Schmerz. Doch von allen fand nur eine die Kraft, endlich zu handeln.
Hollis lag reglos und mit glasigen Augen da und musste mit ansehen, wie Sejast Pandsala umbrachte. Ihr Kopf schien zerspringen zu wollen, ihre Lungen schmerzten bei jedem flachen Atemzug, ihr Körper war wie von glühenden Nadeln zerstochen, und aus einzelnen Wunden blutete Feuer. Hollis verstand Pandsalas Schrei nicht und konnte nicht begreifen, warum ihre eigene, entsetzliche Qual mit diesem Schrei zusammentraf. Sie sah Sejast mit den anderen Lichtläufern um sich herum in die Knie gehen, als müsse auch er sterben.
Hollis sah Pandsalas schlaffen Körper unter ihm und das Messer, das ein wenig aus ihrem Oberschenkel ragte. Sie betrachtete die scharfen Kanten jener blinkenden Schneide, die so hell blitzte, dass ihre Augen immer stärker schmerzten. Sie fragte sich, warum sie nicht auch tot war, warum sie noch denken konnte – im Gegensatz zu den anderen Faradh’im. Ein Teil von ihr funktionierte ganz normal, da fühlte sie sich stark und konnte ihren Körper beherrschen, da fühlte sie sich fast so gut wie jede Nacht, wenn Sejast mit seinem wunderbaren, heißen Kräutertee kam. Doch gleichzeitig wusste sie auch, dass sie einer Illusion unterlag; sie wusste, dass sie aus irgendeinem Grund dem Tode nahe war.
Sie sah das Wort, wie vor Hunderten von Jahren mit verschnörkelter Schrift niedergeschrieben: Den. Ein Wort der alten Sprache: Tod. Doch ein anderes Wort überlagerte es noch, ein Wort aus der Sternenrolle. Chian’den: Tod durch hinterhältigen Verrat. Die Seite
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