Mondlaeufer
»Sie glühten. Vielleicht ist das auch Pandsala so ergangen.« Er holte tief Luft. »Es waren nicht so sehr richtige Dinge, die ich sah, Herrin, sondern irgendwie Gefühle. Es war wie … wie Gestalt gewordene Ängste, halb verschwommen, die man fühlen, aber nicht richtig sehen kann.« Sein leuchtenden Augen wurden nachdenklich, als er sich erinnerte. »Luft mit lebenden Schatten. Dinge, die aus Käfigen kamen, alle schwarz und schrecklich. Drohungen und Gefahren, manche aus alten Albträumen, andere aus … aus allen Höllen. Gefühle, die einen von hinten beschleichen, den Verstand herausreißen und verschlingen wollen. Schatten, die man nicht richtig sehen kann, von denen du aber weißt, dass sie etwas Grauenhaftes verbergen, das gekommen ist, um dich und alles, was du liebst, zu töten …«
Angezogen von dem gedämpften Nachdruck in Riyans Stimme, der plötzlich alle lauschten, war Pol herübergekommen. Seine Augen waren groß und dunkel, die Pupillen waren erweitert.
»Ich habe es auch gesehen«, flüsterte er in das gebannte Schweigen. »Genauso war es. Man greift zu, um es zu verjagen, und es verschwindet, und etwas anderes, etwas ebenso Tödliches nimmt seinen Platz ein. Aber man konnte es nicht richtig sehen oder berühren …«
Der Ausdruck in seinen Augen erschreckte Tobin. »Pol. Jetzt ist alles gut. Alles ist vorbei.«
Er starrte sie einen Moment lang an, als könnte er sie nicht richtig erkennen. Dann strafften sich seine Gesichtsmuskeln und ließen ihn um Jahre älter erscheinen. »Wirklich? Sejast war kaum älter als ich. Vielleicht wusste er gar nicht so viel. Was ist, wenn es noch andere wie ihn gibt, Ältere, Erfahrenere, die nur auf die passende Gelegenheit warten?«
Urival stand auf einmal neben ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Dann werden wir schon mit ihnen fertig. Ich wollte das noch nicht heute vorschlagen, aber vielleicht muss ich es. Ich kehre an die Schule der Göttin zurück und bleibe bei Andry, wenn der dort die Herrschaft übernimmt. Aber ich werde langsam alt. Ich habe in meinem Leben viele hundert Lichtläufer unterrichtet. Der letzte jedoch sollt Ihr sein.«
Pol starrte ihn an. Sein kurzes Nichtbegreifen wurde von völligem Verstehen weggefegt. Und von Dankbarkeit.
Urival nickte. »Wenn Meath sagt, dass Ihr so weit seid, dann schickt nach mir. Ich komme zu Euch, wo Ihr auch seid, und lehre Euch. Andrade hat es so gewollt.«
Sie wollen ihn nicht von Andry unterrichten lassen – diese Erkenntnis entsetzte Tobin. Der große, alte Lichtläufer sah sie mit seinen schönen, unnachgiebigen Augen an. Nicht ohne Verständnis und sogar Mitgefühl. Doch sie hatte gar keine Zeit, zur Verteidigung ihres Sohnes einzuspringen. Ostvel war hereingekommen. Und mit ihm Alasen. Das Paar blieb irritiert stehen, als die angespannte Stille beide aufmerken ließ. Alasens Finger suchten die von Ostvel.
Diese Geste sagte schon alles. Volog hatte ihn belohnen wollen, und er war mit der Liebe und der Hand von Vologs Tochter belohnt worden.
Riyan war als Erster auf den Beinen. Er ging zu seinem Vater hinüber, legte ihm die Hand auf die Schulter, und beide sahen sich ohne Worte einen Moment lang in die Augen. Dann streckte Riyan seine andere Hand zu Alasen aus. Sie legte ihre Finger in seine, und der junge Mann führte ihre Handfläche an seine Lippen.
Sorins Kiefer war verblüfft hinuntergeklappt. Tobin fand seinen Gesichtsausdruck seltsam und beschloss, ihn später danach zu fragen. Doch jede Frage erübrigte sich bald. Denn als die anderen – allen voran Rohan und Sioned – näher traten, um das Paar zu umarmen und zu beglückwünschen, was in dieser seltsamen, traurigen Nacht eine große Erleichterung war – da kam plötzlich Andry herein.
Die Gespräche verstummten diesmal noch plötzlicher als beim vorigen Mal, die Stille war jedoch ebenso schrecklich. Sorin setzte den Becher ab und ging auf seinen Zwillingsbruder zu. Hollis wich unwillkürlich einen Schritt zurück und griff nach Maarkens Hand. Chay sah sich um; er hatte gerade etwas zu Sioned gesagt. Die sah verstört zu Rohan hinüber. Seine Miene veränderte sich, und er setzte zum Sprechen an. Doch Andry hatte bereits zu viel mit angehört. Tobin litt mit ihm, als er mit leeren Augen Alasen und Ostvel ansah. Die grünen Augen der jungen Frau füllten sich mit Tränen. Andrys Blick glitt von ihrem Gesicht zu ihren Fingern, die sie ihm bittend entgegenstreckte, und als er wieder hochsah, diesmal zu Ostvel, glühten
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