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Mondlaeufer

Mondlaeufer

Titel: Mondlaeufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Rawn
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wandte sich ihrem Neffen zu: »Nun? Du hattest reichlich Zeit, die Schriftrollen zu entziffern.«
    »Nicht sehr viel, Herrin«, erinnerte sie Andry. »Aber ich glaube, ich habe ein paar Hinweise gefunden. Es ist allerdings zum Verrücktwerden, manche Wörter ähneln Wörtern von heute, sie haben jedoch offenbar eine andere Bedeutung. Mit ihnen musste ich vorsichtiger sein als mit denen, die ich anfangs überhaupt nicht kannte. Aber ich glaube, ich habe etwas Interessantes herausgefunden.« Er fuhr mit dem Finger über einen Textabschnitt, den sie den ganzen Vormittag untersucht hatten. »Überall kommt dieses kleine Zeichen vor, das wie ein abgebrochener Zweig aussieht. Zuerst dachte ich, es seien nur Kleckse oder Fehler – aber jetzt glaube ich, dass sie Absicht sind.«
    »Und was bedeuten sie?«, fragte sie ungeduldig.
    Andry zögerte kurz und legte dann los: »Ich glaube, sie bedeuten, dass das Wort darüber das genaue Gegenteil von dem heißt, was auf dem Pergament steht. Ihr wisst, wie seltsam es war, etwas zu lesen und später etwas völlig Widersprüchliches zu finden. Aber das Zeichen erscheint erstaunlich regelmäßig an jenen Stellen, die im Widerspruch zu den Stellen davor oder danach stehen.«
    »Was für ein entzückendes Durcheinander!«, schnaubte Andrade. »Soll das heißen, dass sie absichtlich die Unwahrheit geschrieben und darauf vertraut haben, dass die kleinen Zweiglein die Lügen kennzeichnen?«
    »Ich denke, ja.« Andry erklärte seine Theorie mit zunehmendem Eifer, trotz ihres offenen Spotts. »Da ist zum Beispiel eine Stelle, wo es heißt, dass Lady Merisel ein bestimmtes Jahr auf Dorval verbracht hat. Später aber heißt es, sie war in jenem Sommer bei einem mächtigen Herrn im heutigen Syr. Und noch später wird ein Bündnis erwähnt, das die Lichtläufer in jenem Sommer mit diesem Mann geschlossen haben. In der allerersten Passage aber, die ich erwähnt habe, erscheint dieser kleine Zweig.«
    »Gebt uns einen besseren Beweis als so einen Fall, der vielleicht nur ein Fehler ist«, sagte Urival stirnrunzelnd.
    »Aber nur so ergibt es einen Sinn! Sonst läuft alles auf eine Aneinanderreihung von Aussagen hinaus, die sich ständig widersprechen, bis wir nicht mehr wissen, was falsch und was richtig ist – und genau das hat Lady Merisel wohl bezweckt, als sie das hier geschrieben hat.« Er rollte eine andere Stelle in dem Pergament auf. »Überall, wo der eine Teil das eine sagt und irgendwo anders das Gegenteil steht, steht dieses Zeichen am jeweiligen Schlüsselwort. Hört zu.« Er fand die gewünschte Stelle und las laut vor: »›Die Zwillingssöhne von Lady Merisel und von Lord Gerik wurden von Lord Rosseyn wie seine eigenen behandelt.‹ Das Zeichen steht unter dem Namen ›Lord Gerik‹.«
    »Und was heißt das?« Andrade legte Schärfe in ihre Stimme, um ihre wachsende Erregung zu verbergen.
    »Ich glaube, es heißt, dass – dass die Jungen überhaupt nicht Lord Geriks Söhne waren! Vielleicht waren sie ja tatsächlich die Söhne von Lord Rosseyn! Hört mir bitte zu. Wenn ich es so lese, wie es das Zeichen andeutet – ›Die Zwillingssöhne von Lady Merisel, nicht aber von Lord Gerik, wurden von Lord Rosseyn wie seine eigenen behandelt.‹ Könnte das nicht heißen, dass er der Vater war?«
    »Beweise«, forderte Urival. »Gebt uns Beweise, nicht nur Mutmaßungen.«
    »Hier heißt es, dass sie um ein paar Längen Land bei Radzyn kämpften – aber ich kenne die Gegend. Warum sollten sie um ein wertloses Stück Wüste kämpfen? Das Zeichen bestätigt das, weil es andeutet, dass sie nicht um das Land gekämpft haben. Und später heißt es dazu, dass Lord Gerik froh war, dass Lord Rosseyn seine Kräfte in der Schlacht genutzt hat. Aber nur eine Seite davor steht, dass Lady Merisel für gesetzwidrig erklärt hat, die Kräfte zum Töten zu benutzen – und da ist das Zeichen, genau unter dem Wort ›froh‹, das sich auf das bezieht, was Lord Rosseyn getan hat.« Er strich sich das Haar aus der Stirn und sah Andrade an: »Nur so ergibt das alles einen Sinn, Herrin.«
    Urival blickte auf die Schriftrollen. »Sie haben uns also zwei Versionen ihrer Geschichte hinterlassen? Große Göttin, wir werden Jahre brauchen, das alles durchzuarbeiten.«
    »Wir müssen davon ausgehen, dass sie niemandem etwas hinterlassen wollten«, sagte Andry. »Sie konnten nicht wissen, wer die Rollen finden würde oder ob sie überhaupt je gefunden würden. Darum wollten sie alle verwirren, die dies nicht lesen

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