Mondlaeufer
sollte je von deiner Hand getötet werden.«
Chay zuckte zusammen, als der Drache wieder stöhnte. Walvis trat einen Schritt vor. »Ich werde es tun«, sagte er leise. »Feylin, sag mir, wo es am schnellsten geht.«
»Nicht nötig«, erklärte Sioned. »Maarken, das solltest du auch lernen. Komm mit.«
Sie gingen zum Ufer. Der Drache schrie vor Schmerzen auf, als sein geschwächter Körper den Sand berührte. Kühles Wasser umfloss ihn. Aus nur zwei Armlängen Entfernung summte ihm Sioned leise zu. Maarken half ihr, als sie Fäden aus Mondlicht über den Augen des Drachen zu einem blassen, silbrigen Gewebe zusammenwob. Der riesige Körper erbebte; auch sie und Maarken zitterten. Die Augen des Drachen schlossen sich. Wenig später ließ die Anspannung in den schmerzgepeinigten Muskeln und dem zerfetzten Fleisch nach. Sein Gesicht entspannte sich, er machte einen letzten tiefen Atemzug und schlief ein.
Sioned drehte sich um. »Er hat jetzt Frieden, glaube ich.«
»Mutter – hast du ihn berührt?«, stieß Pol hervor.
»Nein. Ich habe ihn nur einschlafen lassen.«
Tobin nickte langsam. »Andrade hat das auch immer gemacht. Weißt du noch, Rohan? Als wir klein waren.«
Sioned nickte bestätigend. »Man lernt das für den achten Ring.«
»Aber du …« Chay sprach nicht weiter. Stirnrunzelnd zuckte er mit den Achseln. »Ich frage nicht weiter. Du hast schon zu viele Dinge getan, die du eigentlich gar nicht können dürftest.«
»Und einiges davon kennt nicht einmal Andrade«, ergänzte Sioned. »Hast du dir gemerkt, wie es geht, Maarken? Und hast du seine Farben gespürt?«
»Das Weben habe ich verstanden«, antwortete er. »Und ich habe einen bunten Regenbogen gesehen, der immer blasser wurde. Es geht, Sioned. Es ist nur die Frage, zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Drachen.«
Rohan ging zum Kopf des Tieres und streichelte den langen Hals, in dem das Leben immer langsamer pulsierte. Noch nie hatte er einen lebenden Drachen berührt, noch nie war er einem so nahe gewesen. Die Haut war weich und kühl, ein dunkles Grün, das im Mondlicht bräunlich wirkte. Seine Fingerspitzen fuhren die stolzen Konturen von Brauen, Nase und Kiefern nach. Ganz sanft berührte er die seidenweichen Augenlider. Sie waren wunderschön – selbst im Sterben.
Über die Schulter sah er seine Frau an und sagte leise: »Danke.«
Zwei Tage später beugte sich Pol über die Karte, die ausgebreitet auf dem Teppich lag, und fuhr oberflächlich den Weg nach, den sein Vater, Chay, Ostvel und Walvis gerade nordwärts in Richtung Tiglath nahmen. Seine Miene war niedergeschlagen, denn er war noch immer enttäuscht, dass er nicht mit ihnen reiten durfte. Als Grund hatten sie angegeben, dass Tiglath in der Nähe von möglichen Schlupfwinkeln der Merida lag, doch Pol glaubte insgeheim, dass sie ihn alle für zu jung hielten. Schon im nächsten Winter würde er fünfzehn werden, und noch immer hielten sie ihn für ein Kind. Es war zu ärgerlich.
Aber sie hatten ihm erlaubt, sie bei der Planung zu unterstützen, wobei ihn ihre taktischen Erwägungen ebenso gefesselt hatten wie die Veränderungen bei Menschen, die er seit seiner Kindheit kannte. Vater, Tante, Onkel, Cousin und Freunde verschwanden. Sie wurden zum Hoheprinzen, zur Kriegsfürstin und zu den Athr’im von Radzyn, Whitecliff, Skybowl und Remagev. Selbst seine Mutter hatte ihre Rolle als Ehefrau des Regenten abgelegt und war nur noch die Lichtläuferin des Hoheprinzen gewesen. So lehrreich die militärischen Beratungen auch gewesen waren, Pol hatte es viel interessanter gefunden, wie sie sich in ihren offiziellen Rollen bewegt hatten. Er beschloss, dass er das lernen müsse – wie man seine eigene Persönlichkeit den Pflichten seiner Stellung unterwarf.
In gewisser Weise hatte sich an Tobin die erstaunlichste Veränderung vollzogen. Pols warmherzige, humorvolle Tante hatte sich mit echter Begeisterung in die Möglichkeiten hineingesteigert, Cunaxa einzunehmen, falls das Prinzenreich so dumm sein sollte, in Firon einzumarschieren. Truppen ausrücken lassen, wahrscheinliche Verluste, die Einnahme des Hofes von Cunaxa, Burg Pine, die Hinrichtung jedes einzelnen Merida – Tobin war mit allen Seiten der Kriegsführung bestens vertraut. Ihre skrupellose Begeisterung hatte ihn erst amüsiert, dann aber erschreckt, als er erkannte, dass jedes ihrer Worte ernst gemeint war. Doch irgendwann wurde ihm klar, dass sie leidenschaftlich gern debattierte. Sie hatte immer im Sinn, den
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