Mondmädchen
Bei den Göttern, darum hatte ich nicht gebeten. Warum hatte Jubas Diener ihn hierhergelegt? Mein Herz raste vor Angst, Erschöpfung und Hunger. Würde es den Gott erzürnen? Würde er es als Beschmutzung sehen?
Aber was war – was wäre, wenn Anubis selbst es gewesen war, der Jubas Diener dazu gebracht hatte, den Kopf für mich hierzulassen? Was, wenn es ein Geschenk des großen Dunklen Gottes war? Ich würde es mitnehmen müssen. Ich schloss die Augen und hob mein Gesicht in die Dunkelheit, um zu beten:
Oh du, Bereiter der Wege, Dunkles Auge der Sonne,
Führe mich sicher durch die Schrecken meiner eigenen Unwissenheit;
Geh mit mir auf meiner gefahrvollen Reise.
Unbemerkt schlüpfte ich in den Säulengarten vor Octavians Schlafkammer. Thyrsus lag vor dem Cubiculum seines Herrn auf einer Binsenmatte, ein Tablett mit Wein und zwei Bechern stand neben seinem Kopf. Ich versteckte mich im Schatten der Ecksäulen und räusperte mich. Nichts. Thyrsus war bekannt für seinen leichten Schlaf. Der Mohnsamenwein schien seine Wirkung getan zu haben.
Da ich es nicht wagte, in die Mitte des Peristylums zu gehen, wo ich im Mondlicht gut zu sehen gewesen wäre, legte ich meine Bündel ab und machte mich im Schatten ans Werk. Mit dem Elfenbeinzahn voller Hieroglyphen und magischer Symbole zog ich im Sand einen Schutzkreis um mich. Ich konnte mich nicht an die alten Worte erinnern, die Amunet benutzt hatte, aber ich dachte, der Gott würde mir das sicher verzeihen.
Mit zitternder Hand schloss ich den Kreis. Die Angst erstickte mich fast und ich rang nach Luft. Da erinnerte ich mich an die Furcht, die mich ergriffen hatte, als Amunet mir damals den Zauber gezeigt hatte. Diese starke Furcht bedeutete, dass der Gott nahe war.
Ich tauchte den Ziegenhaarpinsel in die Amphore mit dem Blut und malte das Profil des Gottes in den Sand zu meinen bloßen Füßen – die lange Schnauze, die großen Ohren, die scharfen Augen. »Oh großer Sohn des Osiris, schakalköpfiger Bezwinger der Feinde Ägyptens, Gott der Toten. Ich bitte um deinen Schutz für einen Sohn Ägyptens«, betete ich beim Malen. »Mögest du meine Hand leiten, dass ich ihn dir heil übergebe, sodass sein Ka weiterleben kann nach dem Willen deines Urteils …«
Die Angst kroch meine Hände empor, immer weiter, bis zu meinen klappernden Zähnen. Ich ließ den Pinsel in die Amphore fallen und holte den Hundekopf aus seiner durchtränkten wollenen Umhüllung. Ich starrte in ein glänzendes, dunkles Auge.
Die Furcht des Gottes hielt mich gefangen. »Was soll ich mit diesem Symbol deiner Größe tun, oh Gott?«, fragte ich.
Schwankend stand ich da und wartete auf eine Antwort. Nichts kam. Ich dachte am meinen ursprünglichen Plan, dass Octavian das Zaubermal aus Blut sehen und fürchten sollte, er hätte den Dunklen Gott erzürnt. Dass der Anblick ihm solche Angst einjagen sollte, dass er seine Meinung ändern und uns Ptolis Leichnam nach ägyptischem Ritus bestatten lassen würde.
Aber ein neuer Gedanke ließ mich innehalten. Was war, wenn er das blutige Bildnis gar nicht bemerkte? Was war, wenn es ein Fehler gewesen war, es hier in die Ecke zu setzen? Ich stöhnte innerlich auf. Octavian musste wissen, dass Anubis herbeigerufen worden war und dass Anubis die heiligen Riten für einen Prinz von Ägypten einfordern würde. Er musste es erfahren!
Dann, als wenn der Gott selbst zu mir gesprochen hätte, wusste ich plötzlich, was ich zu tun hatte. Ich dankte dem Gott und bat darum, dass mir der Schutzkreis, den ich gezogen hatte, bis hinein in die Schlafkammer meines Feindes folgen würde.
Ich stieg über Thyrsus hinweg und wartete, bis sich meine Augen an die Dunkelheit im Cubiculum gewöhnt hatten. Octavian lag wie tot da, einen Arm über die Augen gelegt. Der Raum stank nach abgestandener Luft und Schweiß.
In mir kochte plötzlich eine solche Wut auf den Zerstörer meiner Familie hoch, dass mir für einen Augenblick ganz schwindelig wurde. Der hässliche Anflug eines Gedanken – töte ihn – drängte sich in mein Bewusstsein. Die Göttin möge mir beistehen, aber ich dachte wirklich darüber nach. Betäubt wie er war, war er mir völlig ausgeliefert. Meine Finger fuhren über den Dolch, den ich in meinem Gürtel versteckt hatte. Ich konnte ihm die Kehle durchschneiden, ich konnte zusehen, wie sein böses Blut spritzte und der Albtraum von Schmerz und Tod, den er verursacht hatte, ein Ende nahm.
Mutter würde es tun , ermutigte ich mich selbst. Sie würde
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