Mondmädchen
bedeutete das ja nicht, dass er sich mir gegenüber auch so benehmen musste. Wir waren anders. Ich war der Mond und er die Sonne!
Ich schlang meinen wollenen Umhang enger um mich in dieser dunklen römischen Winternacht. Nein, ich werde nicht warten, dachte ich. Ich werde das sofort klären. Und damit stampfte ich in Richtung der Kammer meines Bruders, wobei meine dicken Ledersohlen sich auf dem hart gefrorenen Boden anhörten, als ging ich auf knirschenden Glasscherben.
Ich schob den schweren Vorhang beiseite, der vor dem winzigen Cubiculum meines Bruders hing. »Alexandros«, sagte ich. »Es ist mir egal, was du sagst … Isis! Was …«
»Raus hier!«, zischte Alexandros mir zu. »Sofort!«
Ich hatte meinen Bruder beim Ausziehen überrascht und im flackernden Licht der kleinen Bronzelampe sah ich die blauen Flecken überall auf seinem Oberkörper und seinen Armen – einige waren bereits zu einem grünlichen Gelb verblasst, andere waren noch rot und wurden dunkler. »Wo hast du die denn her?« Fast hätte ich aufgeschrien. »Wer hat dich so verletzt?«
Er warf sich rasch eine saubere Tunika über den Kopf. »Das geht dich nichts an.«
»Sag’s mir«, wiederholte ich. »Wer tut dir das an?«
»Kleopatra Selene, ich warne dich. Halt dich da raus, das ist meine Sache.«
»Aber du bist mein Bruder, mein Zwillingsbruder, wir sind durch heilige Gesetzte vereint …«
»Nein, sind wir nicht!« Er schrie fast. Ich war froh, dass er ins Ägyptische verfallen waren. Ich wollte nicht, dass neugierige Ohren unseren Streit belauschten. »Nicht mehr.«
Es musste einer der Jungen sein. »Es ist Tiberius, nicht wahr?« Livias Ältester. Ich fand ihn so kalt wie seine Mutter – in Gesellschaft Erwachsener war er normalerweise verschlossen, aber gegenüber anderen Kindern schien es ihm Spaß zu machen, grausam zu sein. Alexandros gab keine Antwort und sah mich nicht an. »Nein? Dann sind es alle! Bei den Göttern! Tiberius, Drusus, Marcellus …«
»Nein, Marcellus nicht.«
Ich war froh, dass Octavians Liebling nicht beteiligt war. Aber bei der Erkenntnis, dass Livias Söhne meinem Bruder den Krieg erklärt hatten, krampfte sich alles in mir zusammen. »Tun sie Ptoli auch was?«
»Nein. Ich würde sie umbringen, wenn sie das versuchen würden«, sagte Alexandros und ballte die Hände zu Fäusten.
»Ich auch«, murmelte ich und atmete erleichtert auf. Ich blickte mich um. »Wo ist Ptoli? Weiß er Bescheid?«
»Er ist zu Marcellus gelaufen, um ihn etwas zu fragen.« Er beantwortete meine zweite Frage nicht. »Ich weiß genau, was du denkst«, fuhr Alexandros fort. »Du denkst: Und du willst der Sohn von Marcus Antonius sein, wenn du dich nicht einmal gegen diese rotznasigen Idioten wehren kannst? «
»Nein, das denke ich überhaupt nicht! Gerade weil du der Sohn des großen Kriegshelden Marcus Antonius bist, versuchen sie, dir wehzutun.«
Alexandros achtete gar nicht auf mich und tigerte wie eine Katze im Käfig auf und ab. »Er ist hinterhältig«, sagte er. »Tiberius. Er greift mich an, wenn kein anderer es sehen kann, wenn ich am wenigsten damit rechne, wenn es so aussieht, als wäre es nur ein Scherz. Wenn ich mich wehre, werde ich von irgendeinem Haussklaven weggezogen und geschlagen, der glaubt, er hätte das Recht, die Hand gegen mich zu erheben, weil Tiberius es ihm befohlen hat.« Seine Stimme zitterte, und er hörte auf zu reden, während er versuchte, die Kontrolle zurückzugewinnen. Er war schon lange genug in Rom, um zu wissen, dass die Römer alle Gefühlsregungen verabscheuten – vor allem bei Jungen und Männern.
Es versetzte mir einen Stich zu sehen, wie Rom ihn bereits verändert hatte, und ich starrte meinen Zwillingsbruder entgeistert an. Wir waren aufgewachsen als die heiligen Kinder der Inkarnation der Göttin. Keiner außer den speziell für uns bestimmten Dienern durfte uns auch nur berühren. Dass Alexandros jetzt auf Anweisung von Tiberius von irgendeinem der niedrigsten Sklaven herumgeschubst oder gar geschlagen wurde, war unvorstellbar.
»Und wenn Kampftechniken auf dem Stundenplan stehen«, fuhr er fort, »lassen sich mich nicht auf den Übungsplatz.«
»Wie meinst du das? Das können sie doch nicht tun!«
»Oh ja, das können sie sehr wohl«, sagte er mit einem bitteren kleinen Lachen. »Und weißt du, was sie sagen? ›Caesar hat strikten Befehl erteilt, dass kein Sohn von Marcus Antonius in der Kriegskunst ausgebildet werden darf.‹ Tiberius lernt also zu kämpfen und übt
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