Mondmädchen
diese Klage bestimmt schon viele Male gehört.
Enttäuschung schnürte mir die Kehle zusammen. Dieser gütige alte Mann war keiner von den Getreuen der Hohepriesterin. Er war genau wie wir gegen seinen Willen hierhergekommen.
»Wusstest du«, sagte der alte Rabbi zu Ptoli, »dass es euer Vorfahr war, dem wir es zu verdanken haben, dass unser Volk außerhalb unseres Heimatlandes überleben konnte? Denn er hat darauf bestanden, dass die heilige Tora ins Griechische übersetzt wurde.«
»Die Septuaginta«, sagten Alexandros und ich gleichzeitig, da wir uns an unseren Unterricht erinnerten.
»Genau«, sagte der ältere Rabbi.
»›Von den Siebzig‹?«, fragte Ptoli. »Was soll das denn heißen? Wovon redet ihr eigentlich?«
»Das, kleiner Ptolemaios«, sagte der ältere Rabbi, »bedeutet, dass dein Vorfahr zweiundsiebzig Rabbiner versammelt, sie in getrennte Räume gebracht und ihnen gesagt hat, dass sie nicht eher wieder herauskommen dürften, als bis sie die Tora vom Hebräischen ins Griechische übersetzt hätten. Dann mussten sie sich noch alle auf die endgültige Übersetzung einigen. Was, wie ich dir sagen muss, schon für sich genommen ein Wunder ist. Nämlich, dass zweiundsiebzig Rabbis sich auf irgendetwas einigen können!«
Der alte Mann lächelte und ich erinnerte mich an seine Warmherzigkeit, als wir vor so langer Zeit das jüdische Viertel besucht hatten. Es kam mir vor, als hätte eine andere Person, eine andere Kleopatra Selene, die ich nicht kannte und kaum wiedererkennen würde, diesen Tag erlebt. »Ihr werdet sehen«, fuhr er fort. »Es wird der Weisheit der Ptolemäer zu verdanken sein, wenn unsere Tradition überlebt.«
Es tat so gut zu hören, dass jemand etwas Gutes über unsere Herkunft und Familie zu sagen hatte, dass mir plötzlich Tränen der Dankbarkeit in die Augen stiegen.
» Aba , hier in Rom wird alles besser werden, jetzt wo Caesar zurückgekehrt ist. Du wirst sehen. Caesar bringt Frieden und Wohlstand für uns alle mit.«
»Alexandrias Wohlstand!«, erwiderten der ältere Rabbi und ich wie aus einem Mund. Seine Augen blitzten, als er mir zulächelte.
»Aber, ich verstehe das nicht«, sagte Ben Harabim und schaute zu dem jüngeren Rabbi und dann zu uns. »Warum … Wie kommt es, dass die ägyptischen Königskinder hier in der Subura herumirren?«
»Sie wollten uns erwürgen!«, verkündete Ptoli.
»Was?«, riefen die drei Männer überrascht aus.
»Wir wurden heute im Triumphzug vorgeführt und dann haben sie uns zu dem Henker ins Tullianum verschleppt«, sagte ich.
Der jüngere Rabbi blies die Backen auf. »Ben Harabim, hast du etwa Feinde Roms in dieses Gotteshaus gebracht?«
»Aber ich wollte doch nur diesen Kindern helfen, die sich verirrt hatten …«
»Es war ein Fehler, ein Missverständnis«, sagte Alexandros. »Wir sollten eigentlich zum Haus von Octavian auf dem Palatin zurückgebracht werden.«
»Komisches Missverständnis«, sagte der jüngere Rabbi und seufzte. »Wir können Feinden Roms hier keinen Unterschlupf gewähren. Wir dürfen die Römer nicht verärgern oder irgendwelche Aufmerksamkeit auf uns ziehen.«
»Pah!«, sagte der alte Mann. »Solche Feigheit werde ich nicht zulassen.« Er wandte sich an seinen Sohn und sagte auf Hebräisch. »Ist es besser, nach der Tora zu leben oder sie nur zu lesen?«
»Aber begreif doch«, sagte der jüngere Rabbi errötend, »während der Jahre des Bürgerkrieges haben die Römer … die Leute suchen immer nach jemandem, dem sie die Schuld für alles geben können und an dem sie ihre Unzufriedenheit auslassen können. Darum. Wir werden ihnen helfen, aber wir können sie nicht hierbehalten.«
»Nun, das ist gut, weil ich nämlich nicht hierbleiben will«, jammerte Ptoli. »Ich will nach Hause!«
Ich war so überrascht von dem Wort ›nach Hause‹, dass ich es wohl unbewusst wiederholt hatte. Jedenfalls wandte Ptoli sich zu mir um und ich sah an seinem geröteten Gesicht, dass sich ein Wutanfall zusammenbraute. »Ja, genau! Nach Hause! Zu Tonia und Marcellus und Octavia und dem Rest meiner Familie.«
Octavians Anwesen auf dem Palatin war kein Zuhause für mich und würde es nie sein. Ebenso wenig wie irgendjemand aus Octavians Haushalt jemals Teil meiner Familie sein würde.
»Komm zu mir«, sagte der alte Rabbi zu Ptoli. »Kennst du die Geschichte von Jonas und dem Wal?«
Ptoli schüttelte den Kopf. »Wer ist Jonas?«
Während sein Vater Ptoli ablenkte, wandte sich der jüngere Rabbi an uns. »Gibt es jemanden
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