Mondnacht - Mordnacht
Himmel, der sich vor den Mond schob?«
Simone nickte. »Ja, das ist er, Mutter. Das ist mein Vater. Der Schatten hat sich nicht aus einer Wolke gebildet, der ist echt gewesen. Ich spürte, wenn er dort oben erschien, unsere Seelenverwandtschaft. Deshalb bin ich davon überzeugt, daß mein Vater ein Wolf ist, der es – ich sage es überdeutlich – mit einer Frau getrieben hat. Wolf und Mensch kamen zusammen, und das Produkt sitzt vor dir. Meine Mutter ist verschollen. Sie hat mich ausgesetzt. Möglicherweise lebte sie schon nicht mehr. Dafür existiert mein Vater, und ich glaube fest daran, daß er auch über mich wacht. Irgendwo ist seine schützende Hand.« Sie blickte zum Fenster hin, als wäre der Schatten dort erschienen.
Dinah senkte den Kopf. »Das muß ich dann wohl akzeptieren, auch wenn es mir schwerfällt und für mich unbegreiflich ist.«
»Das ist es für mich auch, Mutter.« Simone faßte über den Tisch hinweg, um die Hände ihrer Mutter zu nehmen, als wollten sich die beiden gegenseitig Trost spenden.
Nach einer Weile stellte Dinah wieder eine Frage. »Es bleibt dabei, daß du in der kommenden Nacht wieder unterwegs bist?«
»Ich muß es tun!« flüsterte Simone. »Es ist meine letzte Chance. Danach werde ich wieder für vier Wochen normal sein können. Noch hat der Mond genügend Kraft. Es ist eine Mondnacht, die ich zur Mordnacht machen werde. Das ist meine Aufgabe und mein Schicksal. Ich hoffe, daß du dich damit abfinden kannst.«
»Es fällt mir schwer.«
»Aber es ist mein Schicksal«, flüsterte Simone mit traurig klingender Stimme. »Ich will ehrlich zu dir sein und dir sagen, daß ich ebenfalls darunter leide. Ich möchte auch ein normales Leben führen. Ich möchte in der Clique sein, ich möchte Freunde haben, auch einen richtigen Freund, aber das ist nicht möglich, und dir, Mutter, mache ich dabei keinen Vorwurf. Du hast alles gegeben. Du hast mich gerettet. Das Schicksal hat dich dazu ausersehen.«
»Ich denke auch, daß man es so sehen muß, obwohl ich mir in den langen Jahren auch Vorwürfe gemacht habe. Was wäre geschehen, wenn ich dich nicht mitgenommen hätte?«
Sie hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Vielleicht wäre ich erfroren.«
»Dann hast du darüber schon nachgedacht?«
»Natürlich habe ich das. Ich frage mich auch, ob es so nicht besser gewesen wäre.«
»Nein, nicht für mich.«
»Aber für die anderen Menschen.«
»Da kann ich dir leider nicht widersprechen. Aber wie du schon richtig sagtest, du kannst gegen den Trieb nicht an. Er steckt in dir. Er ist dein Erbe.«
»Leider.« Simone räusperte sich. Sie trank einen Schluck Wasser. Dabei hatte sie nachdenklich die Stirn gerunzelt. »Etwas wollte ich dich schon immer fragen, Mutter.«
»Nur zu, ich höre.«
Simones Mundwinkel zuckten. »Es ist für mich nicht einfach, das zu formulieren. Aber ich versuche es. Wir sind lange Jahre zusammen, Mutter. Hast du in dieser Zeit nie Angst vor mir gehabt, wo du doch mein Schicksal kennst?«
»Nein, das habe ich nicht.«
»Ehrlich?«
»Ich schwöre es.«
»Komisch«, sagte Simone. »Trotz des in mir steckenden Triebs habe ich nie das Bedürfnis gespürt, über dich herzufallen und dich zu töten. Nie, Mutter.«
»Das weiß ich.«
»Ich werde es auch nicht bekommen, das weiß ich ebenfalls.«
»Und wir beide müssen zusammenhalten, Simone. Du glaubst nicht, welche Angst ich in den letzten Tagen durchgestanden habe, als ich in der Presse las, was im Waltham Forest passiert ist. Wir beide wissen Bescheid, und die Polizei sucht nach dem Täter. Ich habe immer damit gerechnet, daß sie hier auftaucht.«
»Ich auch. Ich bin ja in der Disco gewesen. Auf der anderen Seite ist der Glaube an Werwölfe in unserer Gesellschaft verödet. Niemand wird darauf kommen, daß Slade einem Werwolf zum Opfer gefallen ist. Auch wenn ich unter Verdacht stehen würde, würdest du mir eine derartige Tat zutrauen?«
»Auf keinen Fall.«
»So wird auch die Polizei denken und ihre Suche auf einen anderen Täterkreis beschränken.«
»Das können wir nur hoffen.«
Simone war sichtlich zufrieden. Trotzdem mußte sie ihrer Mutter noch eine Frage stellen. »Was immer auch geschehen wird, Mutter, du wirst mich nicht verraten – oder?«
Dinah schnappte nach Luft. »Wie kannst du so etwas aussprechen oder überhaupt nur denken?«
»Tut mir leid, aber…«
»Wir halten zusammen, Kind, auch in Zukunft. Sollte es nötig sein, werden wir die Wohnung hier verkaufen und
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