Mondscheinjammer
Bett.'
Bei Xanders Worten bekam ich eine Gänsehaut. Ich musste an unser Gespräch an diesem Abend denken. Er hatte mir erzählt, dass er noch immer Schwierigkeiten hatte, seine neugewonnene Kraft richtig einzuschätzen.
"Ich hab Ashleys Frisiertisch versehentlich in zwei Hälften geteilt." Er hatte fast ein wenig zerknirscht gewirkt.
"Wieso?" Bei der Vorstellung musste ich unwillkürlich grinsen.
"Sie wollte ihn verschieben, und ich habe ihn wohl etwas zu schwungvoll angehoben." Er grinste ebenfalls.
"Bist du manchmal gerne… du?", fragte ich, plötzlich wieder ernst.
"Ich weiß es nicht", antwortete er nach kurzem Überlegen. "Es hat sicher seine Vorteile. Hey, ich werde immer so gutaussehen bleiben, wie jetzt."
Ich versetzte ihm einen Stoß.
"Nein, also, was ich meine, ich kann mir ansehen, was mal aus den Menschen wird. Wie sie sich entwickeln. Die Geschichte miterleben sozusagen. Vielleicht gibt es da draußen ja auch so etwas wie eine zivilisierte Gesellschaft von Vampiren."
"Bist du neugierig?"
"Sicher. Dieses ewige Verstecken, dieses Anderssein ist furchtbar. Ich wäre gerne… mit Gleichgesinnten zusammen und nicht mit meiner jammernden Familie, die nichts tut, außer sich selber unendlich leid zu tun."
"Aber du weißt nicht, wie sie sind."
Er schüttelte den Kopf. "Vielleicht alles üble Killermaschinen."
"Vielleicht leben sie aber auch ganz normal unter den Menschen, sind Barkeeper oder DJs, arbeiten nachts. Wer weiß", überlegte ich.
"Tja, wenn ich bei meinem Schöpfer geblieben wäre, wüsste ich das jetzt sicher." Xander erhob sich langsam. "Es ist spät, du hast morgen Schule."
Ich nickte und gähnte herzhaft. "Willst du es irgendwann herausfinden?"
"Wenn das hier vorbei ist." Er tätschelte sanft meinen Kopf. "Gute Nacht, Lily. Schlaf gut." Mit diesen Worten verabschiedete er sich mit einem Satz aus dem Fenster.
Ich hörte ihn nicht einmal aufschlagen.
Doch trotz meiner Müdigkeit, lag ich noch immer wach. Es waren einfach zu viele Gedanken, die mir durch den Kopf gingen. Morgen war Freitag und am Samstag waren Vanessa und ich beim Miss Liliane zum Tee geladen. Wer wusste schon, was das Wochenende bringen würde?
Freitagabend schaltete ich wieder einmal meinen Laptop ein, obwohl ich eigentlich nicht damit rechnete, irgendeine Nachricht von Kimberly bekommen zu haben. Doch sofort ertönte ein lautes Klingeln.
Ich hatte es seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gehört. Sie war tatsächlich online und rief mich an.
"Hey Nebraska", hallte ihre Stimme durch die Lautsprecher meines Computers. Kein Wort der Erklärung, keine Entschuldigung für die ungewöhnlich lange Funkstille zwischen uns.
"Hey." Sie zu sehen, kam mir vor wie eine Reise in eine andere Zeit. Eine Zeit ohne Geheimnisse, Küsse und vor allem Vampire. Klang das lächerlich? Definitiv, aber so war es nun einmal. Auch wenn ich ein klein wenig sauer auf sie war, so tat es doch gut, Kimberly zu sehen.
Sie trug ziemlich viel Makeup, das konnte ich sogar über das schlechte Webcambild erkennen, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie den Abend ganz sicher nicht Zuhause auf dem Sofa verbringen würde. Es war ja auch Freitagabend. Kimberly blieb an den Wochenenden nie Zuhause.
Aus irgendeinem Grund spürte ich plötzlich so etwas wie Neid in mir aufflammen. Wie lange war ich nicht mehr mit Menschen zusammen gewesen, die sich einfach nur amüsieren wollten?
"Ich hör gar nichts mehr von dir. Ich dachte du schon, du wärst vor lauter Langeweile gestorben." Ihr Lachen klang blechern.
Ich zog eine Grimasse. Ich war nicht diejenige gewesen, die sich nicht mehr gemeldet hatte. Doch ich sagte nichts.
"Was gibt es Neues?" Während sie mit mir sprach, zog sie sich die Lippen mit einem Glos nach. Im Hintergrund sah ich ihre leichtgeöffnete Zimmertür mit den vertrauten Postkarten. Kimberly sammelte alles, worauf kleine Eichhörnchen abgebildet waren, egal ob fotografiert, gezeichnet oder sonst wie dargestellt. Schon als kleines Kind hatte sie sich ein Eichhörnchen als Haustier gewünscht, doch ihre Eltern hatten es vorgezogen, ihr ein Aquarium zu kaufen. Warum auch immer. Eichhörnchen und Fische hatten nun wirklich nicht gerade viel gemeinsam.
Mein Blick fiel auf Manfred, der selenruhig in seinem Laufrad vor sich hin latschte und dabei einen ziemlich zufriedenen Eindruck hinterließ. Wir hatten uns mittlerweile aneinander gewöhnt, und ich hoffte inständig, dass ich ihn am Ende meines Schulprojekts nicht wieder
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