Mondschwingen (German Edition)
Verrat. Und er wusste, er war nicht
besser als Kastja.
„Ich habe das Mädchen zum ersten Mal gesehen“,
flüsterte der König. „Und es mich. Gwaedja hat mich immer wieder gebeten, sie
zu besuchen, sie vielleicht mit sich zu nehmen, aber ich habe es nicht
erlaubt.“
Verräter,
Verräter, Verräter … Das Wort
schoss Rubens durch den Kopf, immer wieder, er konnte nichts dagegen tun. Reiß
dich zusammen, dachte er gleich darauf und fragte laut: „Sieht du Gwaedja noch?
Triffst du dich noch mit ihr?“
Einen Moment lang glaubte er, zu weit
gegangen zu sein, doch langsam nickte Kastja. „Ich kann nicht ohne sie und sie
nicht ohne mich.“ Er wandte seinen Blick vom Abgrund ab und sah Rubens fest in
die Augen. „Bin ich ein schlechter König, Rubens?“
Eine Zeit lang sagte Rubens nichts,
stocksteif stand er da. Ja, hätte er
gern gerufen, ja, das bist du! Du hast
mich und alle anderen verraten.
Und gleichzeitig dachte er an die Jahre, in
denen er sich selbst als Verräter gefühlt hatte, als Lügner, als Narr. Jahre,
in denen er zum großen Kastja aufgeschaut hatte, zum fehlerfreien, perfekten
Kastja. Es fiel ihm schwer, den Kopf zu schütteln, aber schließlich tat er es
doch.
„Erzähle niemandem davon, Rubens,
niemandem, hörst du? Nur du weißt davon und so soll es auch bleiben.“
Das Gespräch war beendet. Mehr sollte und
durfte Rubens nicht mehr erfahren.
„Natürlich“, murmelte er und zusammen mit
Kastja schlich er zur Höhle zurück.
Noch in dieser Nacht brachen sie auf und
wanderten weiter. Nur drei Mondschwingen hatten sie getötet, nur drei, obwohl
sie in der Überzahl gewesen waren.
Sie waren froh, als sie das Varma-Gebirge
verließen, in den Wald eintauchten und der erfolglosen Kulisse entflohen. Es
war schwer voranzukommen in all dem Schnee und neue Flocken fielen noch immer.
Als der Morgen graute – er schimmerte ganz
bleich hinter den Bäumen – lichtete sich der Wald und die ersten Gräser wehten
im Wind. Auf ihrem Weg zur Dunkelmondburg wuchs das Grasmeer stetig an, in dem
man rote Irrlichter hüpfen sah, sobald es zu dämmern begann. In dunklen Nächten
schimmerten dann die Gräser in allen Rottönen, als hätte man sie in Blut
ertränkt.
Brücken erhoben sich im Meer, Brücken aus
Holz und trockenem Schilf, damit der Weg zur Burg nicht zu beschwerlich wurde. Die
Jäger sahen die Dächer und Türme der Burg schon von weitem. Die Wächter hinter
den Zinnen blickten ihnen reglos entgegen und öffneten das Tor, als sie
näherkamen. Sie waren sehr still, als sie eintraten, fast so, als wollten sie
nicht gehört werden, als schämten sie sich für ihre glücklose Ankunft.
Doch als sie dann weiter gingen, dem
Marktplatz und dem Palas näher kamen, bemerkten sie, dass sie nicht ganz
ungesehen in ihre Gemächer kämen. Auf einmal tauchten Menschen aus den Gassen
auf, starrten die vertrauten Neuankömmlinge an und einer von ihnen, ein
einziger, rief so laut, dass seine Stimme in allen Gassen zu vernehmen war. Sein
Schrei, sein gellender Schrei, würde niemand von ihnen so schnell vergessen
können.
„Ein Mond“, schrie er „ein Mond ist
verschwunden!“
TEIL II
VIER WEGE
LINUS
und ein schwerer Abschied
Toiva klebte im
Bruchteil einer Sekunde am deckenhohen Fenster des Speisesaals und blickte
hinauf.
„Wir haben es gerade
eben entdeckt“, stammelte der Bote. „Als es aufgehört hat zu schneien und die
Wolken weggezogen sind und es langsam dunkler geworden ist.“
„Das ist doch völlig
unsinnig“, sagte ein Adliger am hinteren Tischende. „Wie soll ein Mond
verschwinden?“
Toiva blickte sich um,
ganz langsam. Und sie musste nichts sagen, damit alle verstanden. Der Bote, so
gern sie ihn auch einen Lügner genannt hätten, sagte die Wahrheit.
Nun standen sie alle auf
und bewegten sich zum Fenster hin. Toiva zeigte zu den Monden hinauf, als könnte
sie sonst niemand finden.
Die Fürsten und die
Grafen und all die anderen namenlosen Adligen sahen still und stumm zu den drei
Monden über dem Meer, ehe sie zu sprechen begannen. Sie sprachen alle, wussten
selbst kaum, was sie sagten, hörten nur sich und niemandem sonst zu.
Ardaster hatte das
Gesicht in den Händen verborgen und sagte
Weitere Kostenlose Bücher