Monrepos oder die Kaelte der Macht
bei Honecker energisch protestiert und sein Entsetzen zum Ausdruck gebracht hätte. Hatte er aber nicht.
Alle anderen Erklärungen, die Gundelach sich zurechtlegte, überzeugten nicht mal ihn selbst. Und je länger er nach Formulierungen suchte, die gerade noch ausreichend waren, um Betroffenheit zu signalisieren, ohne unwahr oder diplomatisch anstößig zu sein, um so mehr haßte er den Job, der ihm einen solchen Eiertanz abverlangte. Und, sich nicht ausnehmend, Politiker, die es nicht wagten, Meißner Porzellan zu zerschlagen.
Stell dir vor, es wäre Benny. Stell dir nur mal vor, es wäre dein Sohn.
Der Gedanke würgte ihn. Er ging ins Bad, betrachtete das bleiche Gesicht im Spiegel und ließ sich kaltes Wasser über den Kopf laufen.
Es half nichts. Auch der kahle blaugekachelte Raum mit den altmodischen Armaturen und exakt übereinander gestapelten Kernseifepäckchen bereitete ihm Übelkeit.
Scheißstaat. Verkalkte Mörderbande! sagte er laut und hoffte, daß irgendwo hinter dem Spiegel eine Abhöranlage eingebaut war.
Der Druck auf Kohl nahm zu. Man mußte nicht mehr viel tun, um ihn zu verstärken. Alles lief wie von selbst.
Nur 34 Prozent hatte die CDU Mitte März bei den hessischen Kommunalwahlen erhalten, sieben Prozent weniger als vor vier Jahren. Die Union in der Krise, der Kanzler auf einem neuen Tiefpunkt seines Ansehens. Die Europawahl am 18. Juni warf lange Schatten voraus. Heiner Geißler schottete die Parteizentrale gegen das Bundeskanzleramt ab und plädierte kaum noch verhüllt für einen neuen Parteivorsitzenden.
Wie die meisten Journalisten ging auch Gundelach davon aus, daß Oskar Specht für Kohls Nachfolge im Parteivorsitz zur Verfügung stünde. Zwar erklärte sich Specht auch im engsten Kreis nicht eindeutig, doch das war nicht verwunderlich. Jedes offene Wort konnte tödlich sein in einer Situation, die konsequent auf einen Machtkampf zusteuerte. Als Specht in den Ostertagen mit Geißler, Süßmuth und dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Albrecht in der Bonner Landesvertretung zusammentraf, fand das Ereignis sofort den Weg in die Presse: eine Verschwörung, hieß es, mit dem Ziel, Helmut Kohl zu entmachten.
Für Gundelach war klar, wohin die Reise zu gehen hatte. Spechts internationales Renommee mußte gestärkt, seine bundespolitische Position unanfechtbar gesichert werden.
In schneller Folge erschienen Specht-Interviews in der New York Times und der Financial Times. Gundelach flog nach Hamburg und vereinbarte mit dem stellvertretenden Chefredakteur der Wochenzeitschrift Zeit eine Tour d’horizon des Ministerpräsidenten zu außenpolitischen Fragen. Dem Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt versprach er ein großes Interview über deutschland- und parteipolitische Themen. Der Spiegel veröffentlichte ein Streitgespräch zwischen Specht und Lafontaine, das keines war, weil beide Mühe hatten, Unterschiede in ihrer Rebellenrolle auszumachen.
Im Spiegel hatte man den mächtigsten Verbündeten – und den gefährlichsten. Sein politischer Einfluß, von dem Specht jahrelang profitiert hatte, reichte weiter als der irgend eines anderen Presseorgans. Entsprechend hoch waren aber auch die Erwartungen des Magazins an seinen Günstling: Er sollte Kohl kippen, sobald die Zeit reif dafür war.
Kohl wußte es, Geißler wußte es, und Specht wußte es auch.
Bisher hatten die Bonner Redakteure, zu denen Gundelach engen Kontakt hielt, Spechts Zurückhaltung als taktische Maßnahme akzeptiert. Wer König werden will, kann nicht zugleich Minenhund spielen. Den Kanzler öffentlich und direkt anzugreifen, war einstweilen noch Journalistensache.
Jetzt aber wurden sie unruhig und wollten mehr.
Langsam muß auch mal von euch was Substantielles kommen, drängten sie. Der Specht muß endlich Farbe bekennen. Er kriegt sofort eine Titelgeschichte als Herausforderer, als neuer Hoffnungsträger der Union. Aber dafür muß er endlich erklären, daß er gegen den Dicken antritt!
Gundelach wehrte ab. Es ist noch zu früh, sagte er. Und vor den Europawahlen kann Specht die Deckung sowieso nicht verlassen.
Na gut, erwiderten sie. Aber Specht muß aufpassen, daß er nicht den richtigen Zeitpunkt versäumt. Nach dem Weggang von Erich Böhme als Chefredakteur ist die Situation für ihn nicht mehr so unproblematisch wie früher. Einige Kollegen in Hamburg halten ihn für einen Zauderer und Überflieger, und der neue Chefredakteur gehört wohl auch dazu. Wir kriegen immer mehr Druck, unsere
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