Monrepos oder die Kaelte der Macht
ernsthaft versucht. Ein paarmal Anlauf genommen, das ja. Dann aber gleich wieder zurückgesteckt, ängstlich, trotzig, wenn sie so ganz und gar unbeeindruckt schien und weitersprach – am Telefon, bei seinen Wochenendbesuchen in Hamburg oder auch zu Ostern, als sich die Familie zum achtzigsten Geburtstag des Vaters in der kleinen, mit Teppichen und Möbeln vollgestopften elterlichen Wohnung versammelte. Eine Atmosphäre künstlichen Friedens dünstete durch die Zimmerchen und hüllte die Menschen, die den Problemen schauspielernd ausweichen wollten, ein.
Wie in der Politik, dachte Gundelach resigniert. Und wie in der Politik funktionierte es nicht.
Wenn sich bis zum Herbst nichts änderte, wollte er die Wohnung aufgeben und irgendwo ein kleines Appartment mieten. Am besten wieder im Westen, wo kein Garten an Familie und Kinderspiel erinnerte und der Lärm knallender Autotüren und krakeelender Kneipengäste das elend einsame Nachtgefühl betäubte. Nur kein frühes sehnsüchtiges Vogelzwitschern mehr. Bloß kein durch Rolladenritzen hereintropfendes Morgendämmern. Bis zum Herbst mußte er es noch aushalten. Er konnte es sich gar nicht leisten umzuziehen, solange das Buch nicht fertig war. Der Sommer mußte aus der Besinnung hinausgeschrieben werden. Der Gedanke an Urlaub und Gemeinsamkeit durfte gar nicht erst aufkommen.
Zweimal in dieser Zeit, die zum Bersten voll und zum Sterben leer war, begegnete Gundelach Werner Wrangel. Beim ersten Treffen – sie waren gerade aus Ostberlin zurückgekehrt – berichtete er dem kranken Freund von Spechts wechselseitigem Aktenvortrag mit Erich Honecker. ›Haarklein‹ wollte Wrangel alles wissen und strich sich dabei lachend über den kahlen, von der Krebsbehandlung gezeichneten Schädel.
Wrangel war guter Dinge. Zwar sei die Chemotherapie etwas Fürchterliches, sagte er, man gehe barfuß durch die Hölle. Arnheim sei dagegen ein Scheiß gewesen. Aber die Ärzte in der Heidelberger Ludolf-Krehl-Klinik hätten ihm eine günstige Prognose gestellt, und der Tumor scheine nicht weiterzuwachsen. Möglicherweise könne man sogar operieren, dann müsse der ganze Magen entfernt werden, doch das sei ihm egal. Aus Fressen habe er sich noch nie etwas gemacht.
Sag Oskar, wenn ich das hier überlebe, marschieren wir zusammen nach Bonn. Dann packen wir den Dicken!
Danach hörte Gundelach monatelang nichts mehr von ihm. Er vermutete, daß Wrangel wieder in die Klinik hatte einrücken müssen, scheute sich aber, dort nachzufragen.
Ruf mich nicht an, wenn ich die Chemo kriege, hatte Wrangel gesagt. Es bringt nichts und belastet dich nur. Wenn du Galle kotzt, bist du kein Mensch mehr, bloß ein Stück Vieh, das nicht krepieren kann.
Im Juni, als Gundelach gerade beschlossen hatte, seiner Feigheit ein Ende zu setzen und nach Heidelberg zu fahren, meldete sich Wrangel mit kaum vernehmbarer Stimme von einer Telefonzelle im Hauptbahnhof. Er fragte, ob Gundelach eine halbe Stunde Zeit für ihn übrig hätte. Gundelach ließ alles stehen und liegen und fand ihn im Café des Bahnhofs zusammengesunken auf einem Stuhl sitzen.
Er sah so elend aus, daß einige Gäste ihn verstohlen anstarrten. Der Kopf schimmerte bläulich-weiß, die Augen brannten fiebrig in dunklen Höhlen. Finger und Handgelenke waren nur mehr Skelette. Gundelach fühlte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Er konnte nicht sprechen, nur Wrangels Hände umfassen.
Entschuldige, sagte Wrangel, und man sah, daß er die Worte mühsam formen mußte, daß ich dir das zumute. Ich habe, seit wir uns zuletzt trafen, zwei weitere Chemos hinter mich gebracht. Jetzt ist Schluß. Ich kann nicht mehr und ich will nicht mehr. Soweit ist alles geregelt. Aber sag mir: Ich habe noch einen Haufen Specht-Festschriften daheim rumliegen. Meinst du, Oskar würde sich freuen, wenn ich sie ihm zuschicke?
Gundelach nickte. Dann nahm er Wrangel behutsam am Arm und führte ihn zu seinem Wagen. Er war leicht wie eine Feder.
Bringen Sie den Herrn Professor nach Hause, befahl er seinem Fahrer. Ich brauche Sie heute nicht mehr.
Wrangel wollte protestieren, doch da hatte der Fahrer ihn schon wie ein Kind auf den Rücksitz gesetzt und die Tür geschlossen.
Von außen sah es aus, als wäre der Wagen leer.
Die Europawahl brachte ein unerwartetes Ergebnis. Der CDU-Landesverband verlor über elf Prozent, die Republikaner kamen aus dem Stand auf neun Prozent der Stimmen. Für Specht, den Sieggewohnten, sich unterhalb europäischer Dimensionen kaum mehr
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