Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf
ja umsonst den Kopf. Schließlich sah es Christian nicht ähnlich, sich an irgendwelchen hinterhältigen Spielchen zu beteiligen. Deshalb hatte sie ihn instinktiv in Schutz nehmen wollen und Annie nichts davon erzählt, dass sein Name in dem amtlichen Schreiben aufgeführt war, als sie Freitagabend bei ihr vorbeigeschaut hatte. Annie würde das bestimmt nicht billigen, aber er war so gut zu Chloé und ihr gewesen, seitdem sie sich hier niedergelassen hatten.
Das Rotkehlchen merkte, dass es seine Zeit vergeudete, gab es auf, sich hier sein Frühstück holen zu wollen, und flog davon. Stephanie folgte seinem Flug mit ihren Blicken, wandte sich dann vom Fenster ab und brüllte die Treppehinauf, damit sich Chloé beeilte. Sie brannte mit einem Mal darauf, den Tag zu beginnen. Bis zu ihrer Rückkehr konnte sie ohnehin nichts mehr in Sachen Auberge unternehmen.
Sie spülte rasch ihren Becher aus, stellte ihn auf das Abtropfbrett, überprüfte nochmals, ob sie auch alles hatte, was sie für die Woche benötigte, und rief dann erneut nach Chloé. Die Antwort bestand aus einem Trommelfeuer schwerer Schritte, mit dem ihre Tochter die Treppe hinuntergerannt kam, in der einen Hand den baumelnden Ranzen, während sie mit der anderen versuchte, sich das Haar zurückzubinden.
Für jemanden, der so viel Zeit damit verbrachte, seinen Tagträumen vom Dasein als Trapezkünstlerin nachzuhängen, bewegte sie sich etwas zu schwerfällig, wie Stephanie fand, die nach ihrem Autoschlüssel griff und Chloé vor sich zur Tür hinauskomplimentierte.
Als Stephanies alter Transporter an Annie Estaques Bauernhaus vorbeirollte, hatte Annie bereits die Kühe gemolken und den Milchbehälter an die Straße gestellt, damit Christian ihn zur Haltebucht unten mitnehmen konnte. Nicht dass das Melken bei ihrer kleinen Herde lange dauerte, aber es war schon verflixt kalt an einem solchen Morgen. Die Finger blieben an dem Metall der Melkmaschine hängen, und ihr Atem und der der Kühe stieg in Wölkchen vor ihr auf.
Sie warf die Reste vom gestrigen Abendessen in zwei Schüsseln und öffnete die Hintertür, vor der ihre beiden Pyrenäenhütehunde geduldig im Hof auf ihr Frühstück warteten. Sie stellte die Schüsseln auf den Boden und tätschelte die Tiere liebevoll, während sie mit den Gedanken woanders weilte und dem blauen Transporter nachschaute,der auf der sich dahinschlängelnden Straße auf dem Weg ins Tal war.
Nachdem ihr Stephanie am Freitagabend die Neuigkeiten von der Auberge erzählt hatte, war Annie zu der Entscheidung gelangt, etwas zu tun, was sie schon sehr lange Zeit nicht mehr getan hatte: sich einzumischen. In den letzten fünfunddreißig Jahren hatte sie den Kopf eingezogen und einfach damit weitergemacht, den Hof der Familie zu bewirtschaften, hatte die Sommerfeste gemieden und auch den Wochenmarkt in St. Girons, im Grunde alles, wo sich ihre Nachbarn trafen und tratschten. Denn vor fünfunddreißig Jahren war sie der Gegenstand dieses Geredes gewesen. Sie wusste nur zu gut, wie es war, wenn die Leute hinter dem Rücken oder – schlimmer noch – vor allen Leuten über einen redeten.
Aber nun war sie entschlossen, dem englischen Paar in der Auberge auf jede nur erdenkliche Art und Weise zu helfen. Sie wusste nichts über sie, aber was ihnen widerfuhr, war einfach falsch. Und dahinter steckte dieser Schweinehund Papon. Das allein reichte aus, um Annie wachzurütteln und aktiv werden zu lassen. Das und die Tatsache, dass, egal wie die heutige Prüfung auch ausfallen mochte, es direkte Auswirkungen auf Stephanie und Chloé haben würde.
Der Transporter verschwand um eine Kurve, und Annie schritt zielstrebig ins Haus zurück und hustete dabei in ihren Ärmel. Sie lächelte bei der Vorstellung, wie Véronique sie wegen solch unfeiner Manieren schalt. Ihre Tochter begriff nicht, dass sich Annie diese raue Schale vor Jahren zugelegt hatte, um die Leute abzuschrecken, damit ihr niemand zu nahe kam. Inzwischen war es ihr zur Gewohnheit geworden.
Oben in ihrem Schlafzimmer zog Annie ihre schäbigealte Wolljacke aus, die sie zum Melken benutzte, und streifte stattdessen den Fleecepullover über, den Véronique ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt und den sie noch nie getragen hatte. Die von den Kühen verschmutzte Hose tauschte sie gegen eine saubere Cordhose ein, und dann nahm sie ihren dicken Wintermantel aus dem Schrank und bürstete ihn rasch ab. Sie holte sich einen Lappen aus der Küche, wischte den schlimmsten Dreck von ihren
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