Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf
Sicht, die, wenn geöffnet, große Sonnen zeigten, und wenn geschlossen, wie jetzt, winzige Sterne. Das brachte ihn immer zum Lächeln. Stephanie schaffte es sogar, etwas so Zweckmäßigem wie Fensterläden ihre ganz persönliche Note zu verleihen.
Christian ließ beim Vorüberfahren automatisch seinen Blick über das Häuschen gleiten, das den Beginn des Dorfes markierte. Er bemerkte, dass sich eins der Scharniere an einem Laden gelöst hatte und repariert werden musste. Er würde gleich morgen vorbeischauen und es in Ordnung bringen, bevor Stephanie am Freitag zurückkam.
Das Haus gehörte eigentlich Christians Mutter, die es von ihrer Mutter geerbt hatte, und es hatte lange Zeit leer gestanden, bevor Stephanie vor sieben Jahren in die Gegend gekommen war und dringend eine Bleibe benötigt hatte. Christian war sich nicht sicher gewesen, ob sie eine alleinerziehendeMutter ohne Arbeit in einer Region ohne Beschäftigungsaussichten als Mieterin nehmen sollten, aber seine Mutter hatte darauf bestanden, und sie hatte recht gehabt. Stephanie hielt das Häuschen in tadellosem Zustand, bezahlte immer pünktlich die Miete und war zu einem wichtigen Mitglied der Gemeinde geworden. Selbst Annie Estaque fraß ihr aus der Hand. Aber viel wichtiger war, dass er in ihr eine gute Freundin gefunden hatte.
Er fragte sich, worüber sie wohl letztes Wochenende mit ihm hatte reden wollte. Sein Vater hatte lediglich gesagt, dass sie zu seiner großen Freude vorbeigekommen war. Christians Eltern waren ganz vernarrt in ihre Mieterin und machten ständig Andeutungen – nicht gerade dezenter Natur –, was für eine ideale Schwiegertochter sie doch wäre. Und wenn man dann noch Chloé als quasi gebrauchsfertige Enkeltochter hinzubekam …
Die arme Stephanie. Sie hatte ungeachtet der Qualität des Essens schon einige Einladungen seiner Mutter über sich ergehen lassen, die zudem eine etwas diffuse Vorstellung von vegetarischem Essen hatte, zu dem bei ihr durchaus Schinken und Speck gehörten. Manchmal fühlte sich Christian schuldig, dass Stephanie und er nur gute Freunde waren, aber sosehr er sich auch bemühte, er vermochte sich bei ihr einfach nicht mehr als Freundschaft vorzustellen. Unruhig rutschte er auf seinem Sitz hin und her, denn er verspürte den elterlichen Druck, obgleich er allein war.
In der Hoffnung, dass ihn die unentwegten Werbeunterbrechungen und die musikalische Nostalgie in den Wahnsinn treiben würden, schaltete Christian Radio Couserans, den Lokalsender, ein und fuhr weiter durch Picarets. Die meisten der in den Berg gebauten Häuser, die beide Seiten der Straße säumten, hatten die Fensterläden schon für die kommende Nacht geschlossen. Nicht wenige davon, die alsZweitwohnsitz dienten, waren bis zu den nächsten Schulferien ständig verriegelt. Es war weit und breit keine Menschenseele zu entdecken, fast wie in einer Geisterstadt. Das Dorf war so viel ruhiger, als Christian es aus seiner Jugend kannte. Damals lungerten ständig irgendwelche Jugendlichen draußen herum, und im Sommer versammelten sich die Erwachsenen im Schatten der alten Linde. Aber die meisten, mit denen er zur Schule gegangen war, waren weggezogen, um Arbeit zu finden. Es hatte sie nach Toulouse, Marseille, Paris, ja sogar in die USA verschlagen. Nicht viele von ihnen kehrten zurück – außer für einen Urlaub vielleicht –, und das bedeutete, dass das Dorf langsam, aber sicher ausstarb und ohne frisches Blut irgendwann wirklich nur noch von Geistern bewohnt sein würde. In Fogas und La Rivière verhielt es sich ebenso, und das war der Hauptgrund gewesen, warum Christian für den Gemeinderat kandidiert hatte. Aber es war gar nicht so leicht, die Probleme zu lösen.
Annie Estaque war da allerdings anderer Ansicht.
Christian ließ das Dorf hinter sich und bog in die von Bäumen gesäumte Straße nach La Rivière. Vor ihm weitete sich das Tal ein wenig, und das Waldgebiet wurde von einem breiten Stück Weideland unterbrochen. Darüber thronte stolz das Gehöft der Estaque, eines der ältesten Gebäude der Gegend, erbaut Mitte des neunzehnten Jahrhunderts von einem Verwandten, der sein Geld damit verdient hatte, im Sommer Eisblöcke vom Gipfel des Trois Seigneurs herunterzuschaffen, um sie in den Städten und Dörfern Couserans und sogar bis nach Toulouse zu verkaufen.
Ein hartes Leben, das harte Menschen hervorgebracht hatte. Gerüchten zufolge hatte derselbe Mann die riesige Standuhr in der Küche den ganzen Weg von St. Girons aufseinem
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