Monsieur Papon oder ein Dorf steht kopf
der Last genommen worden war, die auf ihr lag. Und dann war danoch der Geruch des Feuers gewesen und die alten Gerüche längst getrunkener Schnäpse, die sich mit der unverwechselbaren Strenge eines Rasierwassers mischten, das sie seit einem halben Jahr nicht mehr gerochen hatte.
Der Klang des Bambuswindspiels im Garten, das im auffrischenden Wind klapperte, holte sie wieder in die Gegenwart zurück. Sie musste sich eingestehen, dass es manchmal toll war, einen Schritt voraus zu sein. Und mit diesem Gedanken griff sie nach den Autoschlüsseln, die auf der Frisierkommode lagen, bereit, sich auf den Weg zu machen.
»Du siehst toll aus, Maman!« Chloé grinste sie anerkennend von der Türöffnung aus an, die Stimme voll gespielter Unschuld. »Ist das nicht das Top, das Christian so mag?«
Stephanie warf ihrer Tochter, deren Augen vor Übermut funkelten, einen Blick zu.
»Tut er das?«, erwiderte sie ebenso unschuldig. »Das wusste ich gar nicht!«
Chloés helles Lachen schallte durch den ganzen Raum, und mit einem Mal kam sich Stephanie im Vergleich zu ihr so weise wie ein Neugeborenes vor. Ganz offensichtlich hatte der Einfluss ihrer beider Vorfahren auch bei ihrer Tochter Spuren hinterlassen.
Annie Estaque benötigte kein exotisches Erbe, um zu ahnen, dass Ärger drohte. Dazu musste sie sich nur den Himmel ansehen. Sie war auf die Erhöhung hinter ihrem Haus gestiegen und stand nun breitbeinig da, den Kopf in den Nacken gelegt, und betrachtete das rasante Tempo der Wolken, die der Wind über den Himmel peitschte. Normalerweise wäre sie von dem Auftauchen und Verschwinden der Sterne entzückt gewesen und hätte gern zugesehen, wie sie ihr immer wieder zuzwinkerten, aber heute war sieviel zu sehr damit beschäftigt, die Zeichen dessen zu deuten, was sie dort oben erblickte.
Und es sah nicht gut aus.
Sie hatte schon gestern Abend, als der Mond durch einen dichten Dunstschleier hinter einer Wolke hervorschaute, gewusst, dass ein Sturm kommen würde. Aber sie war sich erst ganz sicher gewesen, als sich die Wolkenhöhe während des Tages dramatisch verringerte. Sie benötigte kein Radio, das ihr sagte, was sie zu erwarten hatte, und auch keine hübsche Wetterfee im Fernsehen, die sie mit der Alarmstufe Orange – immerhin die zweithöchste Wetterwarnstufe – vor den bevorstehenden Gefahren warnte. Ihr Vater hatte ihr auf dieser Erhöhung, auf der sie sich gerade befand, alles Nötige beigebracht. Er hatte hier neben ihr gestanden und ihr die verschiedenen Wolkenformationen gezeigt, wenn er das Wetter für die kommende Ernte abschätzte oder den richtigen Zeitpunkt für den Wechsel zwischen Sommer- und Winterweiden.
Einmal, in einem Sommer, als Annie noch sehr jung gewesen war, hatte ein Professor von der Universität in Toulouse, der seine Ferien in den Pyrenäen verbrachte, versucht, ihrem Papa die lateinischen Namen für die Wolken beizubringen, die dieser so gut kannte.
Cirrostratus, Altocumulus, Stratocumulus, Nimbostratus, Cumulonimbus …
Papa hatte dem Mann mit der Verblüffung eines Menschen zugehört, dem ein kompliziertes Werkzeug für eine einfache Aufgabe angeboten wird. Es war ihm unerklärlich, warum jemand etwas so Unkompliziertes in ein akademisches Rätsel verwandeln wollte. Dabei war es doch viel einfacher, die Wolken danach zu unterteilen, worauf sie hindeuteten: Schönwetterwolken, Regenwolken, Wolken, die eine Veränderung des Luftdrucks ankündigten.
Er hatte recht gehabt. Aber dennoch hatte Annie die lateinischen Namen niemals vergessen, und manchmal, wenn sie nicht schlafen konnte, erwischte sie sich dabei, wie sie sie herunterbetete, gleich einem Rosenkranz für all diejenigen, die an die Macht der Natur glaubten.
Als sie nun die dunkle Masse betrachtete, die sich aus der Ferne immer näher heranwälzte, war sie überzeugt davon, dass sie diese Namen heute Nacht, während der Sturm sie wach hielt, wieder aufsagen würde. Der hier war ein richtiges Monster. Der würde einigen Schaden anrichten.
Mit einem letzten besorgten Blick Richtung Horizont wandte sich Annie vom Sturm ab und spürte, wie der stärker werdende Wind ihr in den Rücken stieß, bevor sie die Anhöhe herabstieg und zum Hof zurückkehrte. Ihr Vieh war bereits sicher im Stall untergebracht – zumindest so sicher, wie es bei dem, was ihnen bevorstand, möglich war.
Sie betrat das Haus durch die Hintertür und machte sich nach einem flüchtigen Tätscheln der beiden wartenden Hunde daran, die Dinge für die
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