Montags sind die Eichhörnchen traurig: Roman (German Edition)
Charakterzug, der sich Verantwortungsgefühl nennt und der ihm vollkommen abging …«
»Willst du damit sagen, er ist kein anständiger Kerl?«
»Ich sage überhaupt nichts, ich stelle fest …«
»Und du hast mich behalten …«
»Ich wusste, dass ich dich über alle Maßen lieben würde, und ich habe mich nicht getäuscht …«
»Und danach?«
»Ich habe dich allein zur Welt gebracht. Im Krankenhaus. Ich bin zu Fuß hingegangen, zu Fuß zurückgekommen. Ich habe dich unter meinem Namen angemeldet. Schon kurz danach bin ich wieder zur Uni gegangen. Dich habe ich allein in meinem kleinen Zimmer gelassen. Ich wohnte bei einer sehr netten Dame. Sie hat mir sehr geholfen, sie passte auf dich auf, wechselte deine Windeln, gab dir das Fläschchen und sang dir etwas vor, wenn ich zur Uni ging …«
»Wie hieß sie?«
»Mrs. Howell …«
»Mrs. Howell?«
»Ja. Sie mochte dich unglaublich gern. Sie hat geweint, als wir weggegangen sind … Sie muss damals um die vierzig gewesen sein, kein Mann, keine Kinder. Sie kannte deinen Vater, sie stammte aus der gleichen Gegend wie er, irgendwo auf dem Land. Ihre Mutter hatte im Schloss gearbeitet, ihre Großmutter auch. Sie sagte immer, er sei ein Taugenichts, er habe mich nicht verdient. Sie trank ein bisschen zu viel, aber sie war sehr freundlich … Du warst ein perfektes Baby. Du weintest nie und schliefst die ganze Zeit … Als dein Großvater mich in Schottland besuchte, traf ihn fast der Schlag. Ich hatte ihm nichts von dir erzählt. Er nahm uns beide mit zurück nach London … Da warst du drei Monate alt.«
»Und du hast nie wieder etwas gehört von meinem …?«
»Nie wieder.«
»Nicht einmal über diese Mrs. Howell?«
»Er hat dich nicht ein einziges Mal besucht und hat mich auch nicht nach meiner Adresse gefragt, als ich fortgegangen bin. So, jetzt weißt du alles. Es ist nichts, worauf ich besonders stolz bin, aber so war es nun mal …«
»Ich hatte mir irgendwie eine glorreichere Herkunft vorgestellt …«, murmelte Gary.
»Es tut mir leid … Jetzt liegt es an dir, dein Leben glorreich zu gestalten …«
Und nach zwanzig Jahren werde ich diesem unwürdigen Mann einen Sohn schenken. Einen Sohn, für den er nicht einen Tropfen Schweiß vergossen hat. Nicht eine Stunde Schlaf versäumt. Nicht einen Moment gezittert, während er das Fieberthermometer ablas. Nicht einen Cent gespart. Nicht ein Zeugnisheft gelesen. Dem er nicht ein einziges Mal beim Zahnarzt die Hand gehalten hat.
Einen Sohn, der bereit war, ihn zu lieben. »Mein Sohn!«, würde er sagen, wenn er ihn allen präsentierte.
Ich bin sein Vater. Ich bin seine Mutter. Ich bin sein Vater und seine Mutter.
Er war doch bloß ein Samenspender. Der seinen Spaß haben wollte und danach gar nicht schnell genug verschwinden konnte.
Hortense Cortès kannte keine Angst.
Hortense Cortès verachtete Angst.
Hortense Cortès ekelte sich vor diesem Gefühl. Angst, behauptete sie immer, ist wie Efeu im Kopf. Sie gräbt ihre Klauenwurzeln ein, lässt ihre Blätter sprießen, wächst, schlingt sich um unseren Hals und erstickt uns langsam, ganz langsam. Angst ist ein Unkraut, und Unkräuter reißt man aus oder ballert sie mit Pestiziden voll.
Hortense Cortès’ Pestizid hieß Distanz. Wenn sie spürte, wie sich die Angst zu einer bedrohlichen Welle auftürmte, stieß sie die Gefahr weg, schob sie von sich, isolierte sie und … sah ihr ins Gesicht. Ich hab keine Angst, sagte sie dann. Ich hab keine Angst vor dir, du elendes Hälmchen, ich werde dich mitsamt deinen Wurzeln ausreißen.
Und das funktionierte.
Für Hortense Cortès.
Sie hatte als kleines Mädchen damit angefangen, indem sie sich zwang, im Dunkeln allein von der Schule nach Hause zu gehen. Sie verbot ihrer Mutter, sie abzuholen. Und schob eine Gabel in ihre Manteltasche. Mit dieser Gabel und erhobenem Kinn marschierte sie los, die Schultasche auf dem Rücken. Bereit, sich zu verteidigen. Ich hab keine Angst, wiederholte sie immer wieder, wenn die Nacht hereinbrach und die Schatten wie aufgerissene Wolfsschnauzen wirkten.
Dann hatte sie die Latte höher gelegt.
Hatte ihre Gabel gezückt, als der erste Junge sie gegen ihren Willen küssen wollte. Hatte sie in den Schenkel eines vierschrötigen Kerls gerammt, der ihr auf der Treppe den Weg verstellte und zwei Euro Zoll verlangte. Hatte sie dem Kerl ins Auge gerammt, der sie in den Keller zerren wollte.
Bald hatte sie keine Gabel mehr gebraucht.
Man kannte ihren Ruf.
Die einzige Frage, die
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