Montagsmenschen - Moser, M: Montagsmenschen
Schauspieler ein. «Ich hab gleich in der Mittelstufe begonnen, aber die meisten Männer sind natürlich nicht so beweglich wie ich. Das ist ganz normal. Das kommt von meinem beruflichen Training. Ich arbeite schließlich mit dem Körper.»
«Ja», sagte Ted einfach. Er hatte noch nie gewusst, wie man bei Gockelkämpfen mitspielt. Das gegenseitige Abschätzen, Messen, Einordnen, das andere Männer bei jeder ersten Begegnung durchspielen, war ihm fremd. Oft merkte er nicht einmal, was von ihm erwartet wurde. Doch was ihn als Kind zum Außenseiter gemacht hatte, kam ihm nun im Schulalltag zugute. Und was bei den Erstklässlern funktionierte, schien auch bei Schauspielern zu wirken. Einfach gar nicht darauf eingehen.
«Also dann.» Ted nickte und ging an allen vorbei die Treppe hinauf. Auf dem obersten Absatz drehte er sich um. Lilly war stehen geblieben. Sie schaute ihm immer noch nach. Als sich ihre Blicke trafen, schüttelte sie den Kopf. Doch sie lächelte.
«Steht auf», sagte Nevada jetzt. Ted öffnete die Augen. Er stand auf. Stellte seine Füße gerade hin.
«Beginnt mit der Absicht», sagte Nevada. «Nehmt euch vor: Ich werde meine Arme zu Decke heben. Dann beginnt ihr einzuatmen. Zählt langsam. Eins – beginnt die Arme zu heben – zwei, drei, vier, fünf, sechs. Nehmt euch vor, mit den Händen den Fußboden zu berühren. Beginnt mit der Ausatmung. Zählt: eins – jetzt beginnt ihr, die Hände zu senken – zwei, drei, vier, fünf, sechs.»
Während sie noch sprach, ging Ted schon der Atem aus. Er schnappte nach Luft, schaute sich um. Die Arme der anderen bewegten sich in ganz unterschiedlichem Tempo auf und ab. Manche waren, wie seine, auf Halbmast stehengeblieben.
«Fangt einfach wieder von vorn an», sagte Nevada. Ted atmete ein und hob die Arme und dachte, er habe noch nie in seinem Leben etwas Schwierigeres versucht. Doch plötzlich wurde es ganz einfach. Absicht, Atem, Bewegung, Absicht, Atem, Bewegung. Es gab nichts anderes mehr. Doch kaum hatte er sich in den Ablauf hineingefunden, unterbrach Nevada wieder.
«Absicht, Atem, Bewegung», sagte sie. «Das gehört untrennbar zusammen. Das macht Yoga zu dem, was es ist: einem mentalen, nicht einem körperlichen Training.»
Still, konzentriert, in seinen Atem versunken, dachte Ted plötzlich nichts mehr. Nicht an Tina, nicht an Emma, nicht an Lilly, nicht einmal an Marie, die neben ihm stand und deren currygelb und grün verpackten Körper er aus den Augenwinkeln wahrnahm. Zum ersten Mal, seit Ted denken konnte, dachte er nichts. Sein Kopf war nicht von Frauen bevölkert. Er war frei. Erst als er am Ende der Stunde auf dem Rücken lag und versuchte, sich totzustellen, waren sie auf einmal alle wieder da.
«So ein hübscher Junge!», hatte seine Mutter immer gesagt und ihm das lange Haar aus dem Gesicht gestrichen. «Du hättest wirklich ein Mädchen werden sollen!»
Jungen waren die Minderheit in der Wohngemeinschaft, in der Ted aufgewachsen war. Vier alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern. Die Väter wurden selten und nicht immer gern gesehen. Der einzige andere Junge war ein Säugling. Einmal, als Ted etwa zehn Jahre alt war, hatten sie ihn verkleidet. Die Mädchen in der WG. Sie hatten Feenhochzeit gespielt und dazu die alten Nachthemden und Rüschenblusen hervorgeholt, die in der Theaterkiste lagen, die Seidenschals, die mit Papierblumen besetzten Strohhüte, die langen Glasperlenketten, die Samtjacken, die ausgeleierten Tutus, sie hatten Ted eingewickelt und bekränzt, und zum Schluss hatten sie ihn noch geschminkt. Es gab Fotos von dieser Feenhochzeit: all die Schmuddelkinder, herausgeputzt und feingemacht. Sie hielten sich an den Händen, sie tanzten in einer langen Reihe durch den Garten, die Erwachsenen schauten zu.
Ganz am Rand stand Ted, in einem weißen rüschenbesetzten Unterkleid, mit einer Blume in seinen halblangen, verfilzten Haaren und einem zarten rosaroten Schirm in der Hand, den er kokett über sich hielt. In der Hüfte eingeknickt wie ein Fotomodell, den Kopf schiefgelegt, grinste er in die Kamera. Er sah aus, als fühlte er sich vollkommen wohl und glücklich unter all den Mädchen. Doch an diesem Tag hatte er beschlossen, dass dies sein letztes Mädchenspiel mit den Mädchen war.
An diesem Nachmittag legte er die Verkleidung ab, wusch sich das Gesicht und ging zum Fußballplatz hinunter, wo sich die Jungen trafen. Ted kannte sie nicht, er besuchte zusammen mit allen anderen Kindern aus der Wohngemeinschaft die
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